Freiheit

14.8.2012, 11:00 Uhr
Freiheit

© privat

Er läuft durch die Straßen der Stadt. Sein Entschluss steht fest. Er ist viel umhergewandert, ist mal hier, mal dort gewesen und nirgendwo zu Hause. Aber das hat ihm nie etwas ausgemacht, im Gegenteil. Es hat ihn nie wirklich lange irgendwo gehalten. Er hatte sich nie an einen anderen Menschen gebunden. Nicht nur seine Gedanken, sein ganzes Leben war frei. Er hatte geschlafen, wo er wollte, und sich nach nichts und niemandem gerichtet. Mit kleinen Kunststücken und Gitarrespielen hatte er immer genug Geld verdient. Viel benötigte er ohnehin nicht. Gaben ihm die Leute nicht genug, so hatte er seine Methoden, um ein bisschen Spaß mit ihnen zu treiben. Jetzt betritt er einen Laden, ist aber ganz in Gedanken an seine Scherze. So hat er immer gerne im Café gesessen und sich jemanden ausgesucht, den er ärgern wollte. Die, die ihm hochnäsig erschienen waren, waren seine liebsten Opfer. Er bestellte für sich und bat den Kellner darum, dem Herrn oder der Dame an einem anderen Tisch auch ein Gläschen zu bringen. Der Kellner tat das natürlich immer. Und wenn das Getränk gekommen war, prostete er dem anderen Gast zu, der das meistens erwiderte. Er setzte sich an dessen Tisch und sie unterhielten sich meistens ein bisschen. Hatte er ausgetrunken, stand er auf, grüßte und verschwand. Natürlich ohne zu bezahlen.

Er blieb aber immer in der Nähe, um die Verwirrung der Menschen im Café zu sehen. Er liebte es auch, andere zu blamieren. Einmal war er Straßenbahn gefahren und hatte Blähungen. Er ließ einen fahren, dass es in der gesamten Straßenbahn zu hören war und die Leute erschrocken herumfuhren. Da wandte er sich an die Frau, die ihm gegenübersaß und fuhr sie an: „Sie Schwein, Sie!“ Die Frau lief rot an und verließ an der nächsten Haltestelle die Bahn. Auch er war ausgestiegen und hielt sich den Bauch vor Lachen.

Jetzt kichert er leise vor sich hin. Er hat dieses Leben genossen und sich als moderner Till Eulenspiegel gefühlt. Bis gestern. Es hat ihn tief getroffen, in diese Augen zu blicken. Augen mit geweiteten Pupillen, die ihn leer anstarrten. Die Augen dieses Jungen, vor dem er einstmals geprahlt hatte, wie frei sein Leben sei und dass er, der Lebenskünstler, sich kein besseres Leben vorstellen könne. Die Augen des Jungen waren damals auch auf ihn gerichtet gewesen, voll Bewunderung und Abenteuerlust. Gestern hatte der Junge in der Fußgängerzone gesessen, offensichtlich zugedröhnt mit Drogen und Alkohol. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Schuld empfunden. Und jetzt würde er dafür bezahlen, was er angerichtet hatte.

Jetzt läuft er im Laden durch die Damen- und Spielzeugabteilung und besorgt alles, was er heute braucht. Wenn er wirklich alles so durchzog, wie er es geplant hatte, würde sich sein Leben von Grund auf ändern. Heute Nachmittag um zwei ist Showdown. An der Kasse bezahlt er mit seinem letzten Geld und verlässt das Geschäft. Er öffnet seine Einkaufstüte, nimmt die Strumpfhose heraus, zieht sie sich über den Kopf und betritt die Bank. Durch die Strumpfhose kann er nicht gut sehen. Er hat eine blickdichte erwischt. Egal. Irgendwie gelangt er an den anderen Bankkunden vorbei zu einem der Schalter, zieht die Spielzeugpistole aus der Tasche und hält sie der Bankangestellten unter die Nase. „Geld her oder Leben!“, brüllt er. Ihm ist auf die Schnelle nichts Originelleres eingefallen. Dabei sucht er hektisch nach der Überwachungskamera.

„Ach ja“, antwortet die Bankangestellte, „sonst geht es Ihnen aber gut? Halten Sie mich für völlig bescheuert? Fuchteln mit einer Spielzeugpistole vor mir herum und glauben, ich würde hier vor lauter Angst zittern und Geld rausrücken. Abgesehen davon, dass ich Ihnen gar keines geben kann.“ „Warum nicht?“, jetzt ist er völlig aus dem Konzept. Endlich hat er die Überwachungskamera gefunden, reißt sich die Strumpfhose vom Kopf, blickt direkt hinein und setzt seinen, wie er meint, gefährlichsten Blick auf. Die Kunden im Raum sehen ihn teils unsicher, teils amüsiert an. „Ich kenn’ Sie doch. Sie sind doch der Idiot aus der Straßenbahn.“ Sie sieht ihn jetzt direkt an und hat die Hände in die Hüften gestemmt. „Ich kann Ihnen keines geben, weil ich keines dahabe. Zu viele Überfälle und die Bankautomaten sind heute außer Betrieb. Was fuchteln Sie denn so mit der Pistole vor der Kamera rum? Sieht ja so aus, als wollten Sie erwischt werden.“ Er ist nicht mehr Herr der Lage und senkt die Waffe.

In ihren Augen blitzt es verräterisch. „Verstehe“, raunt sie ihm zu. „Liebe Kunden. Es ist alles in Ordnung. Dieser Mann hat nur eine seltsame Art von Humor. Der Nächste, bitte.“



 

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