Freiheit

28.8.2012, 08:53 Uhr
Freiheit

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Ein furchtbarer Lärm lässt ihn aufschrecken. Ludger setzt sich mit einem Ruck auf und starrt in die Dunkelheit, die ihn umgibt. Wie immer, wenn er aus einer Tiefschlafphase geholt wird, ist er verwirrt, und wie ein aufgescheuchtes Huhn dreht er den Kopf in alle Richtungen und versucht das Geräusch, das ihn so unsanft aus seinem Schlummer gerissen hat, zu orten. Chrrrrchrrrrrr. „Nicht schon wieder“, flüstert er in die Nacht. „Ich ertrag’ das nicht mehr. Bitte mach, dass es aufhört“, fleht er weiter. Aber wen auch immer er mit seinem Flehen erreichen will, er erhört ihn nicht. Das beinahe unmenschliche Geräusch sucht sich unaufhaltsam seinen Weg durch die Stille der Nacht. Immer lauter, immer fordernder drängt es sich in Ludgers Gehörgänge, bringt sein Trommelfell zum Vibrieren und nagt an jeder einzelnen Nervenzelle. Er beginnt, hektisch die Schublade seines Nachttisches zu durchwühlen. Chrrrrchrrrrrchrrrrr.

Der Rhythmus des Lärms verändert sich, wird schneller, und gerade als er glaubt, es nicht mehr aushalten zu können, findet er die rettenden Ohrstöpsel inmitten seiner Pornohefte und Schokoladenreste. Er steckt sie so schnell er nur kann in beide Ohren und atmet endlich aus. Erschöpft lehnt er sich kurz zurück in sein Kopfkissen.

Mit Kennerblick stellt er fest, dass sie nichts gemerkt hat und selig weiterschläft. Sie darf nicht aufwachen, denkt er sich, denn gegen ihr Geschrei, warum er sie erneut geweckt habe, wo sie ihren Schlaf doch so dringend brauche, sind selbst ihre gefürchteten Erkältungsschnarcher nur ein leises Flüstern. Ludger kann übrigens sehr gut flüstern. Sie hasst es, wenn andere Menschen genauso laut sind wie sie, und schon deshalb ist er einer dieser leisen Zeitgenossen. Einer von denen, die plötzlich neben einem stehen und einen damit zu Tode erschrecken. Er versucht das auch immer wieder bei ihr, aber seine Frau hat ein Gemüt wie ein Fleischerhund, sie erschrickt einfach nicht.

Ludger setzt sich erneut auf, ein kaum hörbares und doch beinahe spürbares Schnarchen findet seinen Weg durch die Ohrstöpsel. Es gelingt ihm heute nicht, es mit dem Summen seines Lieblingsliedes „Die Gedanken sind frei“ zu unterdrücken. Immer wieder dringt es durch seinen Schutzwall. Er hat das Gefühl, dass Gerlinde sich einen Weg durch das Lied und den Gehörschutz sägt. Erst langsam, ganz sacht, dann immer schneller, lauter. Er verlässt fluchtartig das Bett und das Schlafzimmer. Keuchend steht er endlich in der Küche, wähnt sich in Sicherheit, aber auch hier kommt es angekrochen. Es schleicht kratzend über die Küchenfliesen, hangelt sich an den Schränken empor und findet den Weg in sein Ohr. „Nein“, flüstert er wieder, fleht und jammert. Dann sieht er sie, die schwere gusseiserne Pfanne, die sie unbedingt kaufen musste und die nun zur Zierde über dem Herd hängt. Er greift sie sich, spürt den Holzgriff in seiner Hand, und er muss fest zupacken um das Gewicht zu halten. Ludger schleicht zurück in das Schlafzimmer, nur ein einziges Mal will er versuchen, wie es sich anfühlen würde, ihr das Ding mit aller Kraft auf den Kopf zu schlagen. Er steht auf ihrer Seite des Bettes, holt aus und lässt die Pfanne in Richtung ihres Gesichtes heruntersausen. Im letzten Moment spannt er seine Muskeln an und stoppt das Gusseisen.

Gerlinde wacht durch den Luftzug mit einem Megaschnarcher auf. Ihr gellendes Kreischen stößt messerscharf durch seine Ohrstöpsel, er erträgt es einfach nicht mehr und schlägt mit all seiner Kraft zu. Der Anblick des Blutes und ihres deformierten Schädels entringt jetzt ihm ein Kreischen. Aaaaaaaaaaaaaaah.

Der Schrei lässt ihn aufschrecken. Ludger setzt sich mit einem Ruck auf und starrt in die Dunkelheit, die ihn umgibt. Er tastet panisch mit beiden Händen nach den Kanten seiner Pritsche. Er findet sie, ebenso die dünne Matratze und die kratzige Bettwäsche. Erleichtert lächelt er und setzt sich an den Pritschenrand. Es war nur ein Traum, der schlimmste seiner Träume zwar, aber eben nur ein Traum. Er knipst die Taschenlampe an, die ihm der Schließer Johann zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hat, und sieht sich in seiner acht Quadratmeter Zelle um. Glücklich legt Ludger sich wieder auf seine Matratze. Er ist frei, frei von ihr. Und in seine Einzelzelle dringt kein Mucks von der Welt da draußen.



 

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