Fürths verlorenes Viertel: Glückliche Kindheit am Gänsberg

16.10.2016, 16:00 Uhr
Fürths verlorenes Viertel: Glückliche Kindheit am Gänsberg

© Foto: Vizethum/Archiv: Städtebilder-Verlag

Die Kinder des „Gänsberg“-Viertels werden weniger, aber sie treffen sich noch immer einmal im Jahr und tauschen Erinnerungen aus. Jetzt war es wieder soweit. 

Nachmittags um halb drei sind fast alle schon da, ist der kleine Raum in einem Lokal am Rand der Altstadt erfüllt von munterem Geplauder. Zwei Dutzend Köpfe beugen sich über Bildbände mit Fotos, die meisten schwarz-weiß, manche nachträglich koloriert. Die Bilder zeigen aus immer wieder anderen Blickwinkeln jenes „unentwirrbare Häuser- und Gassenknäuel“, über das Leute aus besseren Ecken Fürths einst die Nase rümpften und über das der Stadtrat schließlich den Daumen senkte. Den Menschen, die hier und heute beieinander sitzen, aber war es einmal ihre ganze Welt.

Von seiner ausgelöschten Heimat hat Georg Schönleben, Betreiber eines kleinen Fürther Buchverlags, viele alte Aufnahmen in einem Fotobuch zusammengestellt. Menschen, die an ihren Elternhäusern zumindest mal vorbeispazieren können, beneidet der 70-Jährige. „Des känna mir ned.“ Von dem Haus, in dem seine Großmutter eine Wirtschaft führte und er mit seinen zwei Schwestern das Zimmer oben links bewohnte, ist nichts geblieben außer Bildern. Auch die Adresse, Lilienplatz, wurde ausradiert. Andere Straßen und Wege gibt es noch, aber sie verlaufen anders als früher und bieten daher kaum Anhaltspunkte für Erinnerungen. „Dabei“, sagt Schönleben mit Bedauern, „ham mir ja am Goonsberch und drumrum ned bloß z’ammg’wohnt.“ Er hebt die Augenbrauen und verfällt sodann ins Schriftdeutsche: „Wir haben dort gelebt.“

Fürths verlorenes Viertel: Glückliche Kindheit am Gänsberg

© Foto: Fritz Wolkenstörfer

* Einen Teil dieses Lebens erklären die Fotos. Zu sehen sind darauf Frauen in Schürzen, die, auf einem Mäuerchen beieinander sitzend, ihre Arbeit verrichten. Kinder, die am Geländer turnen, als verschworene Bande auf der kopfsteingepflasterten Gasse hocken oder lachend mit dem Schlitten die verschneite Straße runterrutschen. Zu sehen sind gebeugte Männlein, die Karren ziehen. Federkissen, die zum Lüften aus dem Fenster hängen.

„Du, Kurtla“, ruft jemand vom Fenster quer durch die Wirtschaft, „woar des do ned eia Auto?“ Kurt Wenzl erhebt sich, tritt näher, wirft einen Blick in das hochgehaltene Buch. „Ja, ja“, sagt er dann und nickt heftig, „des woar der Opel Rekord von meim Vadder. Kennzeichen FÜ-AC, die Zahlen wass i nimmer.“ Wenzls Adresse trug die Nummer 26 in der Bergstraße. Drin verbracht, sagt er 71-Jährige, hat er wenig mehr als die Nächte. „Hamganga bist ja bloß zum Schlafm.“ Denn: „Derham wars halt ned schee.“ Mit Schaudern erinnert sich Wenzl daran, wie eng und ärmlich es überall zuging. Daran, dass sich zig Parteien ein Plumpsklo teilen mussten und eine einzige Wasserstelle im Gang, den „Guss“. Und daran, dass es immer wieder Wanzen gab, obwohl die Bewohner auf Sauberkeit achteten.

Fürths verlorenes Viertel: Glückliche Kindheit am Gänsberg

© Foto: André De Geare

Jedenfalls warf Wenzl als Bub den Ranzen oft gleich ins Eck, wenn er von der Pfisterschule heimkam. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und schaute, wer noch so draußen war. Spielkameraden fanden sich immer, denn der Spielplatz war im Viertel die Straße. Dort traf man sich zum Schussern, zum Wabbeln oder zu Kopfballturnieren „quer über die Strass’“. Und zum „Fußballn“ ging man ein Stück bergauf. Wo bis zur Reichspogromnacht die jüdische Synagoge gestanden hatte, gab es einen Sandplatz und der war das Fußballfeld, wenn die Jungs vom „Goonsberch“ gegen die vom „Lömplatz“ antraten. Klar war: Sobald die Gaslaternen brannten, musste jedes Kind heim.

Die Eltern von Roswitha Mayer, geborene Glauber, hatten am „Goonsberch“ ein Kohlen- und gleich nebenan ein Limonadengeschäft. Die Getränke wurden selbst gemacht, sagt die 70-Jährige, „mit Essenz“. Meist lief der Verkauf so ab, dass Nachbarn die – „ich glaub 13“ – Stufen zum Haus hinaufstiegen und sich ein paar Getränke holten. Erika Marek (77), die damals Hafenrichter hieß, mochte am liebsten die Limo mit Waldmeistergeschmack. „Ach, war die gut“, seufzt sie.

Die beiden Frauen erinnern sich auch an „die Nagi“ mit ihrem Lebensmittelladen. Bei ihr holten sie sich einst für Pfennigbeträge Zwetschgen- und Glühweinbonbons. Nicht mit der Zange, nein, mit den bloßen Fingern griff man dann ins Glas, um möglichst das dickste Bonbon herauszufischen.

Anfang der 1960er Jahre rollten die Bagger an. Die Flächensanierung – zu einer Zeit, da Denkmalschutz ein Fremdwort war, vom Bund als Modellvorhaben zur Stadterneuerung anerkannt – nahm ihren Lauf. Horst Günthert (70), der neun Geschwister hat, wurden die Wände förmlich weggerissen. Die Familie wurde auf die Hardhöhe umquartiert, doch konnte sich die alleinerziehende Mutter dort die Miete nicht leisten. Die Güntherts zogen für eine Weile zurück auf den billigeren Gänsberg. Und mussten erneut erleben, wie ihnen Baumaschinen ihr Zuhause wegfraßen.

Elsbeth Linn-Saietz (68), geborene Hildner, hatte eine Weile in Amerika gelebt und kam 1973 zunächst zu Besuch zurück nach Fürth. Im Taxi fuhr sie vom Flughafen zum Gänsberg. Was sie sah, wird sie nie vergessen: „Das war wie eine Wüstenlandschaft. Auf einmal war alles weg, meine ganze Kindheit.“

Die Stimmung an den Tischen ringsum ist an diesem Nachmittag fröhlich. Doch blitzt in den Gesprächen immer wieder leiser Schmerz über das Verlorene auf. Oft ist vom Zusammenhalt die Rede und von der Kameradschaft am Gänsberg. „Egal, wo’st hin bist, a Stückla Brot hast immer grichd“, heißt es. Oder: „Von am Apfel ham bei uns immer zwa oder drei runterbissen.“ Linn-Saietz spricht schließlich wohl aus, was alle bewegt: „Wenn der Goonsberch widder aufbaut worn wär, wie er war, wärn mir alle widder hinzogn.“

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