Futterneid

13.8.2013, 09:01 Uhr
Futterneid

© DeGeare

Ich liebe dieses neidische „Hach, bist du schlank.“ Es ist meine Belohnung für Tage der Selbstkasteiung, für Wochen des Trampolinspringens und für Joggingstrecken im Bereich kleinerer Weltumrundungen. Dieser Satz gibt mir den Ausgleich für all diese Momente, in denen ich an der Kasse stehe, im Korb einen Bund Bananen, einen Liter Bio-Milch und ein eiweißreiches Vollkornbrot, und fassungslos zusehe, wie die Frau vor mir eine Packung Mars-Riegel, zwei Colaflaschen, eine Tüte Kartoffelchips, Fertignudeln mit Käse und eine Packung Backofenpommes (Sie wissen schon, diese leckeren, die so gut schmecken mit Majonäse, und danach fühlt man sich so, ach!, so zufrieden!) auf das Band packt. Und die ist nicht mal dick.

Manchmal frage ich mich, ob das bisschen Hüfte den Aufwand eigentlich wert ist. Und so ein Schokoriegel, das wär’ doch was.

Ich bin aber nicht allein mit meinem Einkaufskorb, in dem alles Mögliche liegt, nur das nicht, was ich gern essen möchte. Da wären natürlich die Vegetarier und die Veganer. Da gibt es die Gluten-Freien, ob nun aus Allergie- oder Diätgründen. Natürlich die Bio-Esser, die nicht an der Supermarktkasse stehen, weil sie ihren eigenen Laden haben, in dem alles Fairtrade und Demeter verkauft wird. Da gibt es die Rohköstler, die nicht verstehen, wie man etwas kochen kann – all die guten Vitamine! Und dann natürlich die von der Eiweiß-Diät: Jetzt ist das Steak, dem der Vegetarier an der Kasse so vehement abgeschworen und auf dessen Verzehr er das Übel aller Zivilisationskrankheiten zurückgeführt hat, wieder gesund, und überhaupt: Fleisch macht schlank!

Letzte Woche traf ich einen netten jungen Mann bei dem Regal für Fahrradteile. Wir haben uns unterhalten, wir fanden uns nett, wir gingen zusammen Kaffeetrinken – das heißt, ich ging Kaffeetrinken, er bestellte eine Tasse Kamillentee, bio, naturbelassen, und bitte nicht zu heiß. Und weil wir gerade beim Thema waren, stellte sich heraus: Er war ein Vertreter des Urgeschmacks. Ich lächelte, schaute wissend und schlug das Wort am Abend bei Google nach.

Der erste Link brachte mich zu einem Kochbuch, das auch die Prinzipien des Urgeschmackkochens erklärte. Ich fasse das jetzt mal für Sie zusammen: Keine Fertigprodukte, kein Zucker, keine Getreideprodukte, keine Milchprodukte, kein Fett. Kapitel 7 erklärte, wie man es schaffen könne, auch noch das Obst zu reduzieren. Um herauszufinden, was jetzt eigentlich noch übrig ist, muss man schon eine Weile grübeln. Ich rief den Urgeschmackler nicht zurück. Aber ich bestellte mir das Buch.

Ausnahme-Kochbücher haben derzeit Konjunktur – kaum jemand isst mehr, was eben auf den Tisch kommt, und das, was auf den Tisch kommt, hat einen theoretischen Unterbau vom Umfang mehrerer Diplomarbeiten und wird so heiß verteidigt, als ginge es um Kochtopf oder Leben.

Definieren wir uns über das Essen? Haben wir uns in einer Welt ohne Regeln dort Strukturen geschaffen, wo wir sie am leichtesten kontrollieren können, nämlich auf unserem Teller? Ist Normal-Essen demzufolge ein Schritt in die Anarchie? In Profillosigkeit? In den nahrungstechnischen Analphabetismus? In das zukünftige Prekariat? Zeigen wir, wer (und wenn ja, wie viel!) wir sind, durch das, was wir essen? Oder besser: Eben nicht essen?

Essen, einstmals die Sexualität des Alters, wird ein Ersatz für Persönlichkeit.

Vielleicht aber drückt sich hier tatsächlich eine neue Lebenseinstellung aus, geprägt von Achtsamkeit, Mäßigung und Nachhaltigkeit, eine konsequente Fortsetzung lebenslogischen Denkens und Handelns. Erkennt die Menschheit, zumindest in einem Bereich, was sie über Jahre falsch gemacht hat, und — eine unglaubliche Vorstellung! — hat sie etwa dabei gelernt?

Jetzt, in einem Zeitalter, in dem wir alles haben, beginnen einige Menschen damit, das Ungleichgewicht der Erde, in uns und um uns herum, wieder auszugleichen. Sie zeigen, dass ein Leben im Einklang mit Natur und Umwelt möglich ist und uns allen auch tatsächlich möglich wäre.

Oder ist die Nahrungsfrage lediglich eine Modeerscheinung?

Richtig essen ist gar nicht so leicht. Gehen wir zurück in den Supermarkt. Dass wir am Süßigkeitenregal vorbeilaufen müssen, ist irgendwie klar. Nudeln und Reis? Nein, wegen der Kohlenhydrate, die machen dick und unser Magen ist an die Verarbeitung von Getreideprodukten eigentlich gar nicht gewöhnt.

Fleisch und Wurstregal? Besser lassen – viel Fett, schlechte Energien, ökologisch fragwürdig. Bei der Milchprodukte-Insel scheiden sich die Geister, aber letztlich gilt für die Milch das gleiche wie für die Kohlenhydrate, die meisten Leute vertragen sie nicht und es ist nicht restlos geklärt, ob unser Körper tierische Eiweiße überhaupt richtig aufnehmen kann.

In der Gemüseecke sollte eigentlich nichts schief laufen, aber wussten Sie, dass Tomaten Wasserverschwender sind und ihr Transport über die halbe Welt schwer klimaschädlich? Wenn wir alles weglassen, was irgendwie wenig gesund oder wenig verantwortungsvoll ist, bleiben nicht viele Lebensmittel übrig – eigentlich nur ein einziges, und das ist zuckerfreier Kaugummi.

Okay, das war ein Witz.

Neues Essen — Trend oder Tiefenerkenntnis? Egal, für was Sie sich entscheiden: Wenn Sie vorhaben, zu meiner nächsten Lesung zu kommen, bringen Sie mir doch einen Schokoriegel mit. Und einen guten Grund, warum ich ihn essen darf.


 

Keine Kommentare