Gewürzmischung unter Laborbedingung

15.1.2013, 10:38 Uhr
Gewürzmischung unter Laborbedingung

© Scherer

Nichts faszinierte mich in der Küche meiner Mutter mehr als die Gewürzdosen. Es gab ein Regal, in dem standen, säuberlich angeordnet in zwei Reihen übereinander, etwa ebenso viele Dutzend Becherchen und Döschen, teils aus Plastik, teils aus Edelstahl oder Holz. Und alle mit bunten Etiketten, die ich anfangs noch nicht lesen konnte und später einfach nicht lesen wollte. Mich faszinierte Farbe und Form des Inhalts. Die Gerüche nahm ich eher in Kauf, als ihnen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Was gab es da nicht an Pulvern, Körnern, Stängeln und Krümeln. Kümmel und weißer Pfeffer, Thymian und Safran. Oregano, Kardamon, Ingwer, streng riechender Knoblauch und duftendes Bohnenkraut. Jodsalz und roter Zimt, aber auch Wacholderbeeren und sogar Backpulver. Getrocknet, gemahlen, gehäckselt, in Klumpen oder so fein wie Dieselmotorabgase, und das in einer Zeit, als noch niemand ahnte, dass zukünftig Ruß als ungesund gelten würde. In den 1970ern war das, als jeder Westdeutsche noch einen Rechtsanspruch hatte, nicht weiter als zehn Kilometer vom nächsten Autobahnanschluss entfernt leben zu müssen.

Viel später, während meines Studiums musste ich unter anderem ein vierwöchiges Chemiepraktikum absolvieren. Anorganische Analytik nannte sich das, und in den Laboren standen zahllose Flaschen und Kolben, deren stinkende, giftige, brennbare oder ätzende Inhalte in allen Farben des Regenbogens schillerten. Und mich irgendwie an die Gewürzdöschen meines Elternhauses erinnerten.

Das Praktikum lief im Wesentlichen so ab, dass jede Gruppe am Morgen eine Dose hingestellt bekam, die ein Gemisch enthielt, dessen Zusammensetzung wir dann bis zum späten Nachmittag aufklären sollten. Dann wurde losgepanscht. Wir probierten, kleine Mengen in Säure oder Lauge aufzulösen, beobachteten die Farben, wenn das Gemisch über dem Bunsenbrenner in Brand geriet, oder schütteten Salze in die Lösung, die sich irgendwie verklumpen oder ausfallen sollten. Die meisten Tests funktionierten überhaupt nicht, umso mehr Spaß hatten wir dabei, neue Gemische zu erfinden, die am Ende qualmend im Ausguss verzischten.

Die technischen Einzelheiten habe ich im Wesentlichen aus meinem Gedächtnis gestrichen, doch an einen Vorfall erinnere ich mich noch sehr gut. Der Doktorand, der uns betreute, saß eines Morgens in der dritten Woche früh auf einem Schemel und wartete schweigend, bis sich die Gruppe um ihn versammelt hatte. Sein rechter Arm war bis zur Schulter dick mit Verbandsmull umwickelt. Er sagte: „So. Ich erzähle nur ein einziges Mal, was passiert ist. Dann lacht ihr darüber, bis ich Schluss sage. Anschließend machen wir weiter, als ob nichts passiert sei.“ Natürlich waren wir gespannt wie die Regenschirme, was vorgefallen war …

Schon als Kind ließ sich meine naturwissenschaftliche Neugierde nicht mehr bändigen, sobald ich ausreichend gewachsen war, um selbstständig auf die Waschmaschine klettern und von dort aus das Gewürzregal erreichen zu können. Ich begann zu experimentieren, sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die allerdings damals noch nicht ahnen konnte, dass die Gewürzcocktails, die ich anrichtete, nur ein kleiner Vorgeschmack auf die dynamischen Experimente mit Schwarzpulver und Schwefelsäure waren, die einige Jahre später folgten.

Ich nahm nämlich von allen Gewürzen reichlich und rührte sie in eine Tasse kaltes Wasser. Ein grau-grüner Sud bildete sich, auf dem bunte Brocken schwammen. Ein wunderschöner Anblick - fand jedenfalls ich!

Seinen Höhepunkt erreichte das Spiel dann, wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause kam und ich ihm den Sud zum Kosten anbot. Ich fing in ab, kaum dass er die Haustür durchschritten hatte, und zerrte ihn in die Küche. Ich hätte für ihn Suppe gekocht, krakeelte ich, nach einem fantastisch leckeren Rezept, das ich mir selbst ausgedacht hätte, und er habe doch sicherlich Hunger und freue sich darauf, als erster probieren zu dürfen.

Ich gehe davon aus, dass mein Vater schon beim ersten Mal sofort durchschaute, was da auf ihn zukam. Aber er spielte mit, und zwar immer wieder, vielleicht dreißig, vierzig Mal, denn ich war schon immer ein notorischer Wiederholungstäter.

Und er spielte wahrlich perfekt mit: machte große Augen, rieb sich in Vorfreude den Bauch, spitzte die Lippen und trank … um dann, nach einer perfekt bemessenen Schrecksekunde, würgend aus der Küche zur Toilette zu rennen und die ganze Vorstellung lautmalerisch perfekt abzuschließen. Tusch! Vorhang! Ich amüsierte mich jedes Mal königlich, und wunderte mich auch nie, dass mein Vater tatsächlich monatelang immer wieder auf den selben Trick reinfiel.

Irgendwann verlor ich die Lust an dem Spiel. Vielleicht gingen auch einfach die Gewürze zur Neige und meine schlaue Mutter kaufte solange nichts nach, bis ich mir eine andere Zwangshandlung zugelegt hatte. Erst Jahre danach, im Chemiepraktikum erinnerte ich mich wieder an das großartige Rezept der Gewürzmischung, und zwar als unser Betreuer von seinem Missgeschick berichtete.

Eine der Übungsproben habe er einfärben wollen, damit wir nicht so leicht den Inhalt erraten könnten, und dazu habe er Metallpulver genommen, ganz fachmännisch, allerdings einen Tick zu viel, und da sei das Becherglas in seiner Hand explodiert, und der Arzt in der Notaufnahme habe ihm zwei Stunden lang die Splitter aus der Haut gepflückt.

Wir lachten pflichtschuldig, bis er Schluss sagte, und verloren danach kein Wort mehr über den Unfall. Ich dachte mit wohligem Gruseln an meine Experimente in Mutters Küche zurück, und malte mir aus, in welcher Gefahr ich, ahnungslos, wie ich war, und mein womöglich noch ahnungsloserer Vater damals wohl geschwebt waren … Nach Abschluss des Praktikums schwor ich der Chemie endgültig ab. Aber wenn ich es mir recht überlege, könnte ich eigentlich mal wieder einen Gewürzcocktail brauen. Und dann zum ersten Mal selbst davon probieren.



 

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