Gottes Wort

17.7.2012, 09:00 Uhr
Gottes Wort

© Scherer

Es war ein sonniger Vormittag, an dem die Leiterin des Kinderladens „Blaue Wale“, Lena Dobler-Hertenfeld, ein bunt gemaltes Schild an der Eingangstür befestigte, auf dem verkündet wurde, dass Geschwisterkinder bei der Aufnahme 50 Prozent Ermäßigung und einen Sojalolli extra erhielten.

Als sie stolz zurücktrat, um ihr Werk zu betrachten, streckte sie ein völlig überraschender Blitz aus wahrhaft heiterem Himmel nieder. Die durch zahlreiche vermeintlich indianische und schamanische Riten bei Lagerfeuern abgehärteten Kinderladenkinder glaubten an eine der üblichen rituellen Ohnmachten und ließen die Leiterin vor der Tür liegen, obwohl die Traumfänger um ihren Hals noch leicht glommen.

Am selben Vormittag, etwa eine halbe Stunde später, beendete der leitende Verwaltungsfachangestellte Schöber eben ein Rundschreiben an die Bediensteten seiner Abteilung, in dem sie aufgefordert wurden, ihre Urlaubsanträge doch bitte zeitnah abzugeben, als zwischen dem USB-Eingang seines Rechners und seiner Stirn ein plötzlicher Lichtbogen entstand und Schöber in tiefer Bewusstlosigkeit in seinem Bürostuhl zusammensinken ließ. Seine Sekretärin, die ein seltsames Knistern gehört hatte, sah kurz durch die Tür, murmelte ein etwas genervtes: „Oh — schon wieder Power-Napping!“, wollte das Licht ausschalten und erhielt dabei einen elektrischen Schlag, der ihr die Haare zu Berge stehen ließ.

Kulturredakteurin Klinger, die es etwas eilig hatte, die Kritik des gestrigen Rockkonzertes fertigzuschreiben, da sie sich in der Mittagspause auf einen Espresso mit ihrem heimlichen Geliebten treffen wollte, schrieb ohne lange Überlegung von der fulminanten Boshaftigkeit, die sich in den gesellschaftskritischen Liedern der Jugendband „Death to Death“ geäußert habe, als ihre Tastatur durch einen Kurzschluss plötzlich komplett unter Strom stand. Bedauerlicherweise hatte Kulturredakteurin Klinger sich eben auf der Toilette für ihren Geliebten frisch gemacht und deshalb noch feuchte Hände, was dazu führte, dass der Strom begeistert durch all ihre Fingerspitzen eindrang und ungefähr in Brusthöhe zusammenfloss. Klingers Herz beschloss daraufhin, eine kurze Auszeit zu nehmen, was zu einem weiteren kleinen Kurzschluss führte. Überall im Bundesgebiet kam es an diesem Tag zu Blitzschlägen, Kurzschlüssen, Überschlägen, Lichtbögen und zu unglaublich vielen kleinen Schlägen aus statischer Elektrizität.

Wissenschaftler winkten ab, als sie mit Anfragen bedrängt wurden: „Koinzidenz“, meinten sie unisono, „bestenfalls liegt es an der vermehrten Sonnenaktivität.“ Pfarrer Friedrich wusste es besser. Er hatte alle Berichte über diese seltsamen Vorfälle gelesen und eine Theorie entwickelt, die ihm aber — wieder einmal — keiner glauben würde. Deshalb hielt er den Mund, achtete jedoch mit einem leisen Lächeln, das um seine Mundwinkel spielte, beim Abfassen seiner Predigt auf eine noch genauere Wortwahl als sonst. Er hatte so eine Ahnung.

Vierundzwanzig Dimensionen weiter nördlich rieb Gott sich in grimmiger Befriedigung die Hände. Blaue, gelbe, rot leuchtende Blitze umwetterten sie knisternd und entluden sich durch alle Dimensionen hindurch auf die Erde.

„Ha!“, wandte sich Gott der Herr fröhlich an den bärtigen Herrn neben ihm, „es funktioniert! Großartig! Es funktioniert wirklich!“

„Na ja“, antwortete Iwan Petrowitsch Pawlow bescheiden, „natürlich. Bedingte Konditionierung. Man könnte natürlich auch ein Belohnungssystem anwenden“, fügte er vorsichtig hinzu, „das ginge schon auch.“

„Belohnung?“, donnerte Gott. „Die verdienen keine Belohnung. Die sollen froh sein, wenn ich sie nicht töte! Wie heißt der erste Satz des Johannesevangeliums? Wie?“

Es donnerte nun durch die gesamte Dimension. Pawlow, obwohl Naturwissenschaftler, rezitierte zurückhaltend: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war in Gott und Gott war das Wort.“

„Na bitte!“, schrie Gott, „na also! Und was machen sie da unten? Sie machen die Wörter kaputt! Ich meine, was für ein schöneres Geschenk kann man dem Menschen machen als die Sprache?“

Pawlow seufzte. Er kannte das schon. Seit dreißig Jahren hörte das gesamte Himmelreich jede Woche dieses Gejammer. Und es war immer schlimmer geworden. Deswegen hatten die Engel ihn gefragt, ob er nicht eine Lösung wusste. So war er überhaupt zu dieser Beraterstelle gekommen.

„Geschwisterkinder!“ Gott redete sich in Rage. Was die Menschen für Sonnenstürme hielten, war in Wirklichkeit der Zorn Gottes, der sich in gigantischen elektrischen Wolken um seine Stirn entlud. „Geschwisterkinder! Habe ich den Menschen nicht die Wörter Neffe und Nichte geschenkt? Zeitnah! Ich bitte dich! Wenn irgendjemand der Zeit nah sein kann, dann bin das ich! Ich habe sie erschaffen! Alles andere ist bald! Boshaftigkeit! Wozu habe ich in unendlicher Präzision das klare Wort Bosheit erschaffen? Wozu?“

Pawlow bemühte sich, die Wogen zu glätten: „Es war wahrscheinlich wieder einmal Luzifer“, meinte er beruhigend, „sieht ganz nach ihm aus.“

Das war falsch gewesen. Gott raste jetzt vor verzweifeltem Zorn: „Nein“, donnerte er, „ich habe ihn gefragt! Er hat nichts damit zu tun. Die machen das alle selbst. Luzifer hat mich ja sogar um Hilfe gebeten, weil kürzlich einer auf dem Sterbebett noch gesagt hat: ,Ich geh Hölle, Digga, echt!’ Ich habe Luzifer vorher noch nie weinen sehen!“, schloss er eindrucksvoll, „aber jetzt ist Schluss! Die Gedanken mögen frei sein, aber das Wort ist es nicht! Das Wort ist göttlich!“

Er sandte erneut eine Wolke kleiner Blitze auf die Erde. Unten brachen zahlreiche Deutschlehrer zusammen, die ihren Schülern eben erklärt hatten, sie seien in Deutsch nicht wirklich gut. So viel Spaß hatte Gott nicht mehr gehabt, seit er am fünften Schöpfungstag den Nacktmull, die Giraffe und die Sachsen erschaffen hatte.

Pawlow dagegen begann, sich vorsichtig zurückzuziehen. Das würde wohl noch eine Zeitlang dauern, dachte er, aber dennoch war er vorsichtig optimistisch: Vielleicht würde die neue Welt dort unten wirklich eine schönere werden, wenn sie erst einmal ordentlich konditioniert war.

 

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