Grauer Tag

18.3.2014, 10:19 Uhr
Sie steht im Regen: Christine Wittmann.

© De Geare Sie steht im Regen: Christine Wittmann.

Nehme die blaue Stunde und färbe sie grau. Schon lange habe ich Wolken gesammelt, jetzt stehen sie vor deinem Fenster getürmt. Ich puste dir ein paar Tropfen auf die Scheiben. Schön wirst du träumen jetzt. Und wenn du aufwachst: Ich bin da. Lege leise meine Morgenschatten bis an den äußersten Rand: sollen andere dich wecken. Ich sehe nur zu. Ich tränke deine Lippen mit Tau. Ich stille deinen Durst, solange du träumst. Ich bin die Hüterin der Frühe, der Zauberer der ersten Dunkelheit, der Dirigent mancher Regenkonzerte. Die, die den Sturm loslässt. Und ich habe etwas für dich.

Erwachst du, so gedenke meiner und nimm Farbe zur Hand.

Weißt du denn, wie Grau entsteht? Nimm alle Farben die du hast, nimm dein Flattergelb, dein verträumtes Blau, das Zittergrasgrün, nimm vom Lila der Passion und gib die Feldfarben hinzu: Ocker und Braun. Mische es mit Liebe. Du wirst Grau erhalten. Hellgrau, dunkelgrau, blaugrau. Graugrün. Du denkst, ich bin nichts. Doch ich bin alles zugleich. Nehme still meine Regenschleier, bereite sie über dich als hüllte ich dich in Liebe, in Nebel gewiss, vielleicht auch in Wehmut, die ich mit mir bringe: Nichts ist ohne Fehl. Ich schenke deinem Herzen eine besondere Sehnsucht nach Glück, die eng mit Wehmut verbunden ist: Goldene Stunden können es sein, die du mit regengrauen Gedanken verbringst.

Wohl dem, der unbelastet durch den Regen läuft, doch glücklich der, der ein Herz hat, es an etwas zu hängen. Die Gedanken werden ruhiger sein jetzt. Wer schluchzt, hört auf.

Du magst es nicht, mein Regengrau, denn in tausend Pfützen entstehen Spiegel, in denen du dich ansehen musst. Kann sein, dass du dich erkennst. Erwachst du, wird der Tag dir erst schwer erscheinen, kalt, dunkler als sonst. Aber dann! Spiele lautlos einen Walzer und lasse sie tanzen, meine eigenen Farben, hundert bunte Schirme im Wind, im Rhythmus der trommelnden Tropfen, in den Händen von hundert Schirmträgern mit nassen Schuhen, die in den Strömen nach Hause wollen. Nur manchmal geht einer darin spazieren, der muss sehr einsam oder sehr glücklich sein.

Jetzt entstehen die großen Gedanken, zarte kleine Gedichte, verzweifelte Entscheidungen. Bis in deine Träume hinein. Wirst du sie verlassen? Heute, am Nachmittag, wird alles ausgemacht sein. Du wirst im Stadtparkcafé sitzen und ich werde dir ein Mädchen schicken, mit grauen Augen und nassem Haar, auf dem Fahrrad von einem Schauer überrascht.

Erwachst du, wirst du nicht wissen, was kommt. Ich bin da. Ich bin auf der großen Terrasse. Ich bin an dem großen Fenster, an dem ihr sitzt. Zur Nacht halte ich mich bei den Katzen auf. Und du?

Lege leise meine Morgenschatten bis an den äußersten Rand: Noch darfst du schlafen, noch eine Weile lang. Meine Wolken sind schon da. Gleich wird es regnen, und wenn du erwachst, ist alles grau.

Ich bin vor jedem Licht. Ich pflücke die ersten Blätter der Nacht, ich ernte die Früchte der Frühe. Du denkst, ich bin nichts: doch ich bin alles zugleich.


 

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