Infraschall

10.1.2012, 08:30 Uhr
Infraschall

© Winckler

Tscheljabinsk ist eine Millionenstadt im südlichen Ural. Früher wurde es auch Tankograd genannt, weil hier Tausende von T-34-Panzern für die Rote Armee produziert wurden. Heute braucht man weniger Panzer, dafür bauen sie jetzt mehr Traktoren, Heizgeräte und Rohre.

Tscheljabinsk verfügt über keine lange Geschichte, hat aber mittlerweile drei Universitäten und eine blühende Kulturszene. Im Jahr 1957 kam es im 150 Kilometer entfernten Kernkraftwerk des Chemie-Kombinates Majak zu einem nuklearen Zwischenfall, bei dem große Mengen an Radioaktivität freigesetzt wurden. Neben dem Karatschai-See, der heute noch verseucht ist, wurden mehrere Hundert Hektar Wald verstrahlt. Die Sowjetunion vertuschte den Vorfall und so kam es, dass aus den Wäldern noch jahrzehntelang Holz geschlagen wurde, das man zum Heizen oder für die Möbelfertigung benötigte. Auch Balalaikas für das berühmte Tscheljabinsker Balalaika-Orchester wurden aus den dicken Fichtenstämmen des südlichen Urals gefertigt. In diesem Orchester spielte Vera 15 Jahre lang die Subkontrabass-Balalaika, bevor sie nach Deutschland auswanderte.

Hier angekommen, bekam sie einen Sprachkurs, eine Wohnung und schließlich einen Termin beim Arbeitsamt. Der Arbeitsmarkt für Subkontrabass-Balalaikaspielerinnen sei zurzeit eher schlecht, erklärte ihr dort ein freundlicher Herr, ob sie denn sonst nichts gelernt habe.

Als nach zwei Wochen immer noch nichts passiert war, beschloss Vera, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Während ihr Mann auf dem Sofa lag, Tee trank und Zeitung las, packte sie Katja, ihre Balalaika und schleppte sie in die Fußgängerzone. Zunächst erregte sie noch einiges Aufsehen, aber nach etwa einer halben Stunde schien die Fußgängerzone menschenleer. Die wenigen Personen, die noch unterwegs waren, zeigten eine äußerst blasse Gesichtsfarbe und machten Anstalten, sich demnächst zu übergeben.

Schließlich näherte sich ein Polizeiwagen. Zwei junge Beamte mit ebenfalls fahlen Gesichtern stiegen aus und baten sie, mit dem Spielen aufzuhören. Die Fußgängerzone wäre soeben als Epizentrum eines schwachen Erdbebens registriert worden. Das wäre wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass über die Hälfte der Menschen in der Innenstadt Magenprobleme bekommen hätten. Die Polizisten wuchteten Katja in ihren Kleinbus und fuhren Vera nach Hause.

Zwei Tage später saß sie wieder auf dem Amt. Der Mann erklärte ihr, dass er leider immer noch keine Arbeit für eine Subkontrabass-Balalaikaspielerin gefunden habe. Vera erzählte, dass sie ja gerne selbstständig damit Geld verdient hätte, aber die Polizei es ihr verboten hatte, wegen eines Erdbebens. Der Mann erklärte, dass sie wohl bald eine andere Arbeit annehmen müsste, immerhin bekam sie ja auch Geld von dem Amt.

„Ich nehme jede Arbeit, die Sie mir geben", sagte Vera.

„Gut“, sagte der Mann, „dann geht’s jetzt zur Firma Vetrowsky, Kellertreppen putzen!“

Zwei Wochen später — Vera war bei der Firma Vetrowsky bereits zur Vorarbeiterin befördert worden — meldete sich der Zoo. Just zu dem Zeitpunkt, als Vera mit ihrer Katja das Erdbeben verursacht hatte, war ein Delphinjunges im Sterben gelegen. Man hatte keine körperliche Ursache für dessen Erkrankung finden können, doch kurz nach dem Erdbeben ging es dem kleinen Wal wieder besser. Die Wissenschaftler des Zoos hatten lange gerätselt, waren dann aber auf die Meldung des schwachen Erdbebens gestoßen, das von einer Subkontrabass-Balalaikaspielerin in der Fußgängerzone verursacht worden war. Dies musste durch Infraschallwellen entstanden sein, also Töne, die so tief waren, dass ein Mensch sie nicht mehr hören konnte. Wale dagegen konnten diese Töne hören und die Biologen fanden keine andere Erklärung für den Vorfall als Veras Balalaikaspiel. Der Zoodirektor bat Vera, mit ihrem Instrument dem Delfinarium einen Besuch abzustatten, da schon wieder ein Delfin aus unbekannten Gründen erkrankt war.

Kurz darauf war klar: Vera konnte mit Katja kranke Delfine heilen, allerdings erst abends, nachdem der Zoo geschlossen hatte, weil tagsüber die Besucher den Infraschall nicht vertragen hätten. Und weil der Zoo sehr arm war und Vera kaum etwas für die Delfin-Therapie bezahlen konnte, spielt sie nun am Abend Balalaika im Zoo und tagsüber führt sie einen Putztrupp bei der Firma Vetrowsky.
 


 

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