Keiner liebt mich

3.4.2012, 12:00 Uhr
Keiner liebt mich

© DG

Niemand liebt mich“, sagte das Meer.

Einmal, als das Meer nicht viel zu tun hatte, begann es gründlich nachzudenken.

„Eigentlich“, dachte es, „liebt mich niemand.“ Das war ein trauriger Gedanke, so tief und kalt wie an der dunkelsten Stelle, dort, wo der Mond silbern in den Wellen verschwindet und erfriert.

„Nein, niemand liebt mich“, wiederholte das Meer und verfolgte mit eifersüchtigen Augen einen Schwarm Marienkäfer, der so unbekümmert über es hinwegzog, dass sich das Meer nur umso bedeutungsloser vorkam.

„Ein Strom hat seine Schnellen“, dachte das Meer. „Und ein Fluss hat sein Bett. Nur ich liege hier im Dreck und man fliegt über mich hinweg.“

Mit einem Mal fühlte das Meer sich sehr vernachlässigt. Es züngelte wütend an den Strand und erschreckte dabei einige Enten und Sumpfhühner, die eilig die Flügel aufspannten und unter allem Prusten und Zetern, das dem Federvieh zur Verfügung steht, bekundeten, was sie von der Sache hielten.

„Niemand liebt mich“, klagte das Meer dem Dichter, der am Strand spazierte.

Sofort beschrieb ihm der Dichter, wie sehr es geliebt wurde, und weil er ein Dichter war, dauerte es sehr lange und war blumig ausgedrückt.

„Niemand Richtiges liebt mich!“, grollte das Meer und ließ seine Wellen über sich zusammenschlagen.

Als es sich wieder beruhigt hatte, kam der Bär.

„Ich habe mich zurückgezogen, um traurig zu sein“, sagte das Meer. „Weil niemand mich liebt.“

„Du hast Ebbe“, sagte der Bär, der viel gelesen hatte und von Welt war.

„Nein“, sagte das Meer trotzig. „Ich leide an Melancholie.“ Und tief unten in ihm glitzerte ein silberheller Schimmer auf, weil es an etwas so Bedeutsamen litt.

„Die Welt hat mir übel mitgespielt“, sagte es langsam, fast wie zu sich selbst. Es freute sich an dem Gedanken, denn das klang gut: übel mitgespielt.

„Nie bringt mir jemand ein Geschenk. Nie ruft jemand an. Niemand liest mir etwas vor.“

„Ich komme dich besuchen!“, sagte der Bär, „Und dann reden wir doch! Ich habe nichts für dich dabei, aber ich kann dir etwas bringen, ein wenig Süßwasser zum Beispiel!“

Das Meer zischte verächtlich.

„Wenn man danach fragen muss, ist es kein echtes Geschenk!“, rauschte es. „Und das bringt mir niemand! Weil niemand mich liebt!“ Und sein Wellenschlag bekam einen klagenden Ton.

Da riet der Bär dem Meer, sein Anliegen dem Hummer vorzutragen, von dem man wusste, dass er etwas vom Traurigsein verstand und der vielleicht einen klugen Rat geben konnte.

Also ging das Meer zum Hummer.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Hummer mit schwerer Stimme. „Denn ich nehme nicht an, dass Sie gekommen sind, um etwas für mich zu tun.“

„Nein“, sagte das Meer und wurde sich bewusst, dass es kein Geschenk mitgebracht hatte.

„So ist es immer“, jammerte der Hummer, „so ist es immer. Na ja, dann kommen Sie eben herein, wenn es sein muss. Was sollte ich schon Besseres zu tun haben! Aber daran denken Sie nicht. Niemand denkt an mich.“

Nach zwei Stunden mit dem Hummer war es dem Meer, als bewege es in seinen Wellen und Wogen flüssiges Blei. Der Hummer stand zum Abschied an der Tür. „Sie kommen ja sicher nicht wieder“, sagte er. Doch das Meer hatte nicht mehr genug Kraft, ihm zu antworten.

„Ich bin krank und sterbe“, sagte das Meer zu dem Fisch, der gerade vorbeischwamm und es seltsam ansah. „Das bist du nicht“, sagte der Fisch, der ein Fisch war und das beurteilen konnte.

„Dann werde ich es“, sagte das Meer düster, „Früher oder später werde ich es.“ Und es zog seine Wellen weit hinaus über den Ozean und tauchte tief in das Blau des Tages, voller Wehmut und der Schwere ungeweinter Tränen.

Als es gegen Abend zum Strand zurückkehrte, traf es den Waschbären, der sich zur Nacht fertig machte.

„Heute vergehe ich“, sagte das Meer, um ein Gespräch zu eröffnen. „Es ist so ein trauriger Tag. Ohne jede Hoffnung.“ Und es schmeckte dem Wort Hoffnung nach wie einer Süßigkeit, die ein kleiner Junge nur ein einziges Mal essen durfte.

„Das kann nicht sein!“, sagte der Waschbär fröhlich, der immer guten Mutes war und sich das Fell fertig schrubbte. „Ich hatte Hummersalat zu Mittag. Es ist sogar ein Glückstag, müssen Sie wissen. Einer der besten, von denen man überhaupt sprechen kann.“ Und er nahm Zahnpasta und Seife und verschwand im Dickicht des Waldes, ohne die Not des Meeres weiter zu beachten.

Jetzt, in der Dämmerung, fühlte das Meer sich wirklich alleine, und es fühlte noch eine Menge anderer Dinge, die kalt waren, dunkel und von innen hohl. Das Schlimmste aber war, dass keines von den Tieren mehr kommen mochte, um dem Meer dabei zuzuhören, dass niemand es liebte. Und als das Meer zum Hummer gehen wollte, um über dieses seltsame, einsame Gefühl zu sprechen, traf es den Hummer nicht an.

„Hummersalat“, dachte das Meer, und erschauderte leise.

 

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