Kriegsträume, Fieberträume

2.4.2013, 09:52 Uhr
Kriegsträume, Fieberträume

© Winckler

Meinem Vater wurde 1944 der Kiefer zertrümmert, kurz nach meiner Geburt. Die schwere Verwundung war seine Rettung, seine Heimatzertrümmerung. Vater war eine militärische Bulldogge. Er hätte sonst nicht mehr losgelassen. Der Endsieg musste kommen: koste es, was es wolle. Sein Preis war hoch, aber im Nachhinein erträglich. Sage ich. Aber Vater verlor noch lange dunkles Blut. Herzblut. Die Niederlage hat er lange nicht verkraftet.

Mein Vater hatte Landwirtschaft studiert und er dachte, wie ich es aus seinen Briefen heraus lese, fast ausschließlich in den fiebrigen Begriffen seiner Zeit. Tierzuchtkathegorien: Veredelung und Ausmerzung. Das übertrug er wohl auch auf die Menschen. Der verächtliche Blick aus dem Fenster des fahrenden Zuges an die Ostfront: durchrasste Rinderherden, betreut von klein wüchsigen russischen Bauern mit breiten Backenknochen. Bei einem derartigen Aussehen darf und kann man einfach keinen Krieg gewinnen, schrieb mein Vater. Trostreich sollte das sein. „Untermenschen“ haben keine Chance.

Meine Träume durchkreuzen jetzt meines Vaters Aufzeichnungen: Ich befinde mich in einer total zerstörten deutschen Stadt. Es muss 1945 gewesen sein. Schutthaufen meterhoch, kaum passierbare Straßen. Von einem Haus ist nur ein säulenartiger Rest übrig geblieben, sehr hoch, und auf dieser Säule befindet sich der Rest eines Zimmers, eine Zimmerfassade mit schrecklichem Ausblick, eine vom Einsturz bedrohte Fassade. Und in diesem Mauerfragment hoch über den Trümmern, unerreichbar für alle, keine Treppen führen hinauf, hinab, - in dieser schaurigen Verlassenheit, dem Rabenhorst, der so gar nicht zu ihr passt, steht eine Frau, alterslos, weil allzu grau. Sie schreit, heult, will den Sprung wagen, aber wagt ihn nicht, weil er das Ende wäre. Die Haare, von Staub und Blut und Schweiß getränkt, stehen ab, Schmerzantennen, Verzweiflungsantennen.

Die Menschen tief unten wuseln, erst nach Hilfe suchend, durch einander, nicht allzu lange, denn es gibt keine Feuerwehr, die diese Schuttberge durchqueren könnte, keine Leiter, die diese Höhe hätte erreichen können.

Gelähmt von ihrem eigenen Schmerz haben sich alle verzogen in ihre Trümmerhöhlen, aus denen sie nun lugen und dabei ihre Ohren versiegeln. Wenn auch abgestumpft, wie lässt sich fremde Verzweiflung ertragen, selbst wenn sie aus höchsten Höhen kommt und der Schall sich mildert?

Ein Panzergrollen von ferne, Kettengeräusche, Unruhe in den Löchern, weiße Tücher werden vorsichtig aus den Kellerluken geschoben: Die Besatzer kommen, die Geißeln Gottes, die Befreier, wie man sie ebne sehen will, die Amerikaner.

Und sie rollen heran, die Panzerketten zermalmen die Trümmer der Stadt. Aufgesessene Soldaten, fast entspannt grinsend unter Stoff überzogenen Helmen. Schwarze und weiße Gesichter, der Staub macht sie alle grau. Links und rechts neben den Panzern zwei Reihen im Schützenmarsch, Gewehr im Anschlag, aber schlendernd in der Gefahr wie auf dem Boulevard. Was soll auch passieren, der Krieg liegt in den letzten Zügen.

Als sie die Frau entdecken hoch oben im Turm, hält die Kolonne, das Rohr des vordersten Tanks richtet sich nach oben. Ist der „Heckenschütze“ weiblich, männlich? Doch die Figur dort oben wirkt reglos. Tot? Kraftlos.

Die Lemuren aus den Kellerlöchern kriechen heran, mit erhobenen Händen, mit unterwürfigen Gesichtern reden sie in einer unverständlichen Sprache. Der Trümmerplatz weitet sich zur Wüstenstadt. Die Menschen sind Berber geworden, nicht Sesshafte. Nomadenvölker. Gebetsmühlenartig fallen die Wörter: Brot. Zigaretten. Nix Nazis.

Die Frau dort oben. Sie ist vergessen. Teil des Tableaus. Ein Soldat zeigt nach oben, packt eines der Plappermäuler am Kragen, fragt in mühsamen Deutsch, ganz langsam: „Was ist mit der Frau“?

Achselzucken. Tot muss sie sein. Man weiß es nicht. Sie bewegt sich nicht. Seit dem letzten Bombenangriff, vor drei Tagen. Vor einer Woche, verbessert ein anderer.

Erst habe sie geschrieen, die Frau, doch, es ist eine Frau, aber man konnte ihr nicht helfen. Niemand konnte ihr helfen, zu hoch war das alles. Und niemand hat sie gekannt. Eine Fremde. Vielleicht hat sie sich in diesem Haus versteckt. Man musste den Kindern die Ohren zuhalten. Irgendwann ist das Schreien leiser geworden, vielleicht habe man sich daran gewöhnt. Schließlich ist die Frau verstummt. Oder man habe sie vergessen. Ein Mahnmal im Turm. Nein, man hat zu tun mit dem eigenen Überleben.

Schuldbewusst stehen sie herum, die Bürger, die Überlebenden. Was fragen die so saudumm, die Besatzer. Aber Aufsässigkeit ist fehl am Platze. Also guckt man zu Boden.

Der Offizier winkt einen Soldaten heran, einen Schwarzen, das Gesicht ist schwarzer Stein. Marmor. Gemeißelt. Muskeln. Schwergewichtsboxer in einem früheren Leben. Aber kann ein Boxer so melancholisch sein? „Das ist etwas für Dich, Ed“, sagt der Offizier. „Hol die Frau da runter. Zeig denen, dass wir Menschen sind.“

Ed prüft die Entfernung, er lässt den vorderen Panzer näher an den Turm fahren. Er holt ein Seil, ein Schiffstau, am vorderen Ende befindet sich ein Haken. Breitbeinig steht er vor dem Panzerturm, ein schwarzer Cowboy in einer deutschen Trümmersteppe. Er schleudert das Seil, der Haken frisst sich punktgenau in das Mauerwerk neben der Frau. Das andere Seilende vertäut er in einer Eisenöse am Panzer. Das Gleiche wiederholt er mit einem Zweiten Tau zur Verstärkung.

„Okay“, brummt Ed und zieht Handschuhe an. Gewandt, kraftvoll, artistengleich zieht er sich nach oben. Die Frau erwacht aus dem Mumienschlaf. Von unten starren die Überlebenden, missmutig, ungläubig, fasziniert. Ist der Erlöser jetzt ein Untermensch, ein Affe? Aber Würde zeigt er, der Soldat in seiner schweigsamen, in seiner starken Männlichkeit.

Ist King Kong, den kennen sie alle, übergriffig geworden, weil die Wehrmacht platt, weil die weiße Frau ohnmächtig ist? „Warum haben wir das nicht geschafft?“, fragt sich mancher. Aber nur leise. „Gut genährt sind sie halt, die Amis“, brummelt ein anderer. „Selbst die Schwarzen füttern sie gut durch“, empört sich mancher, „aber wir haben nichts.“

Ed hat die Frau mit einem weiteren Seil an seinem Körper fixiert, gleitet mit ihr langsam, wie schwerelos, nach unten. Bewusstlos fast hängt die Frau in seinen Armen, ungläubig bestarrt sie das Marmorgesicht.

„Okay, Lady?“, fragt der Soldat leise und fürsorglich und übergibt sie dem Sanitäter. Verhaltener Beifall. Murren. „Was war das? Ein Stückchen Utopie? Ein rettender Gott? Ein schwarzer Gott? Gibt’s das?“

Die Kolonne rollt weiter. Die Menschen verkriechen sich wieder in den Trümmern. Wäscheleinen werden gespannt. Die Kinder spielen „King Kong und die weiße Frau.“ Fieberträume. 



 

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