Leben mit Cadolzburgs "Bleistift"

28.5.2015, 13:00 Uhr
Leben mit Cadolzburgs

© Foto: Sabine Rempe

Ein bisschen märchenhaft schaut der Ausguck aus, so als könne jeden Moment Rapunzel von oben herab lugen. Die neugotische Pracht wurde 1893 von der Münchner Lokalbahn-Aktiengesellschaft gemeinsam mit dem Markt Cadolzburg errichtet – eine Art von früher PR-Aktion, die prompt Ausflügler anzog und bald zu einem Wahrzeichen wurde.

Wenn Dorothea Hammer von ihm spricht, dann nennt sie ihn ganz schlicht nur „den Turm“ und das klingt beinahe, als gehe es um ein Familienmitglied. Was vielleicht gar nicht so falsch ist. Zumindest wohnt die 84-Jährige schon seit ihrem fünften Lebensjahr im Schatten des Turms. Nur wenige Meter entfernt steht ihr Elternhaus, von hier aus hat schon die Mutter das Schlüsselwächteramt inne gehabt: „Ich habe sie als Kind oft begleitet“, erinnert sich Dorothea Hammer.

Lauter Warnpfiff

Auch heute noch geht sie am Morgen die wenigen Schritte zur Turmtür und schließt auf, abends sperrt sie wieder sorgsam ab. Neben dem großen Schlüssel hängt an ihrem Bund eine Trillerpfeife. „Die ist wichtig“, sagt sie lachend. „Da pfeif’ ich jeden Abend ganz laut drauf, um die Leute zu warnen, die vielleicht oben sind.“

Früher habe sie stets die 143 Stufen bis zur Spitze erklommen, um selbst nachzuschauen, ob auch niemand mehr die Weitsicht genießt: „Das kann ich mittlerweile aber nicht mehr.“ Ein paar Mal haben die Warn-Triller nichts gefruchtet, erzählt sie freimütig: „Da ist schon mal wer aus Versehen eingesperrt worden. Aber es musste niemand übernachten, alle haben sich ganz schnell bemerkbar gemacht.“

Rund um ihren Turm bleibt Dorothea Hammer nichts verborgen. Regelmäßig hat sie ihn ausgekehrt. Von oben nach unten, Stufe für Stufe. Heute achtet sie zum Beispiel darauf, dass kein Müll herumliegt.„Da bitte ich die Leute einfach, dass das Zeug in den Abfallkübel geworfen wird und dann gibt es damit kein Problem.“

Glaubt man gerne. Wer wollte der freundlichen Frau etwas abschlagen? Auch die Jungs, die jetzt mit einem Fußball unter dem Arm auftauchen, versprechen sofort, beim Kicken auf die Grünanlage vor dem Turm aufzupassen.

Der Bleistift war für Dorothea Hammer immer dabei und stand ihr als Zeuge in vielen wichtigen Momenten zur Seite. „1950 habe ich hier gesessen und Eintrittsbilletts verkauft, dabei habe ich meinen Mann kennen gelernt.“ Er sei aus der Kriegsgefangenschaft gekommen und zu Besuch bei seiner Mutter gewesen, die es aus dem Böhmerwald nach Cadolzburg verschlagen hatte.

Fünf Jahre zuvor war der Turm beschädigt worden: „Als die Amerikaner 1945 kamen, wurde von Roßendorf aus geschossen, da ist der Balkon getroffen worden.“ Lieber sind ihr natürlich die Erinnerungen an längst vergangene Silvesternächte, als es mit ein paar Nachbarn hinaufging, um das neue Jahr zu begrüßen.

Von seiner Anziehungskraft hat der Aussichtspunkt bis heute nichts verloren. Zwar sind die Zeiten vorbei, als der Bleistift inmitten von Kirschbäumen stand und die Fürther in Scharen mit der Bahn „in die Bläih“ fuhren, um die Blütenpracht zu bestaunen. Doch rund 4000 Besucher ließen sich auch im vergangenen Jahr wieder vom Panoramablick verlocken. Eine Zahl, die die Turmwächterin anhand des auf Treu und Gewissen bezahlten Eintrittsgelds von 50 Cent pro Person errechnet hat. Die Einnahme bekommt die Gemeinde.

Ruhe für Wanderfalken

In diesen Tagen bleibt die Turmtür allerdings geschlossen. Noch bis 26. Juni sollen die Wanderfalken, die hoch droben brüten, ihre Ruhe haben. Keine Frage, dass Dorothea Hammer die Anlage dennoch im Auge behält. „Bei den Senioren lachen die schon immer, weil ich bei Veranstaltungen nie lange bleibe, sondern immer sage, ich muss zu meinem Turm. Dann heißt es immer: Du und dein Turm . . .“, erzählt sie und schmunzelt.

Ganz überrascht gewesen sei sie, als sie vom Landkreis Anfang des Jahres für ihr ehrenamtliches Engagement als „Stiller Held“ ausgezeichnet wurde. Gefreut hat sie sich freilich sehr, obwohl sie ihren Einsatz ziemlich selbstverständlich findet.

„Ich bin zufrieden mit meinem Leben“, sagt Dorothea Hammer. Nur eines kommt ihr hin und wieder in den Sinn: „Manchmal mach’ ich mir schon Gedanken, wer das weitermacht, wenn ich mal nicht mehr da bin.“ Aber dann schüttelt sie energisch den Kopf: „Wenn ich mal krank war, ist es ja auch weitergegangen. Dann hat sich immer jemand aus der Familie gekümmert.“ Und dann wirft sie dem Turm noch einen langen prüfenden Blick zu. Es ist alles in Ordnung.

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