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17.4.2012, 09:33 Uhr
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Katja steht müde in der Küche. „Kaffeemaschine an“, ruft sie in die Stille. Sofort ertönt ein leises Gurgeln. Ein aromatischer Duft nach Kaffee erfüllt den Raum. Dann ruft sie „Zeitung“. „Sehr gern, welchen Teil möchten Sie hören?“, fragt eine Frauenstimme. Katja entscheidet sich für den Boulevardteil. Und die Stimme beginnt mit den neuesten Meldungen.

„So machen die Stars und Sternchen Urlaub“, sagt die Stimme gerade, als Katja ruft: „Zeige Film.“ Die Küche ist plötzlich erfüllt von Menschen in Badehosen, die Cocktail schlürfend an einem Pool sitzen. Katja sieht gar nicht richtig hin. Ganz in Gedanken ruft sie „Staubsauger an“. Das Gerät fährt langsam aus seinem Fach und macht sich an die Arbeit. Katja kann das leise Summen hören.

Sie trinkt ihren Kaffee, da unterbricht die Stimme erneut, nicht für einen Werbeblock, wie Katja zuerst glaubt, sondern für eine Schadensmeldung. „Ihr Staubsauger hat soeben einen technischen Fehler gemeldet, möchten Sie einen Servicetechniker beauftragen?“ Katja wird ganz aufgeregt und überlegt nicht lange. „Nein, danke“, antwortet sie. Im Wohnzimmer findet sie den rot blinkenden Staubsauger. Sie untersucht ihn und bewegt einen Hebel nach vorne, um ihn zu öffnen. Mit der Hand greift sie ins Saugrohr und zieht triumphierend etwas heraus. Es ist ein Stück Papier. Seit Wochen findet sie diese Dinger an den komischsten Orten. Sie hat sie alle aufgehoben.

Zuerst hat sie gar nicht gewusst, was das sein sollte. Aber sie hat im Netz recherchiert und weiß nun, dass es sich um ein Relikt aus alter Zeit handelt. Wozu man es benutzte, hat sie allerdings nirgendwo gefunden. Auf diesem Stück ist, wie auf allen anderen, die sie aufgehoben hat, ein Symbol und ein Bild dazu zu sehen. Es macht ihr Spaß, zu rätseln und die Bedeutung herauszufinden. Auf manchen waren auch mehrere Symbole und ihre dazugehörigen Bilder zu sehen und sie hat allmählich das Prinzip verstanden. Die Symbole sind Darstellungen bestimmter Laute, die man zusammensetzen musste, damit sie einen Sinn ergaben. So wurde beispielsweise aus dem Apfel, dem Bären, dem Esel und dem Raben das Wort „aber“. Heute ist das Papier voller Symbole, die sie schon kennt. Aber die Bilder fehlen. Sie muss also alle Papiere holen, die sie bereits schon besitzt, um die Botschaft zu verstehen. Sie fühlt sich wie ein Kind, das ein Geburtstagsgeschenk bekommen hat und es nun auspacken darf.

Lange betrachtet sie das Papier: „Wir alle werden überwacht. Jeder unserer Schritte wird über das Netz verfolgt. Es gibt keine Privatsphäre mehr. Unbequeme Kritiker verschwinden spurlos. Wir haben uns vom Netz getrennt und leben seit Wochen im Untergrund. Die vergessene Kunst des Lesens und Schreibens, die wir dich die letzten Wochen gelehrt haben, ermöglicht es uns, miteinander zu kommunizieren, ohne dass es verfolgt werden kann. Früher wurden Revolutionen über das Netz gemacht. Heute ist das Netz unser Feind. Wir werden immer mehr. Schließe dich uns an.“

Katja starrt auf die Papiere. Auf was hat sie sich nur eingelassen? In ihrer Küche ist die Poolparty in vollem Gang. Sie wirft erst jetzt einen Blick darauf. Wie gerne würde sie vergessen, was sie gerade erfahren hat. Was fällt diesen Leuten ein, sie da hinein zu ziehen. „Die Opposition kann lesen und umgeht so das Netz. Sie haben mir das Lesen beigebracht“, ruft sie. „Was soll ich jetzt tun?“ Nichts passiert. Die Stimme antwortet nicht. Auch die Poolparty hat ein jähes Ende gefunden. Jemand hat sie aus dem Netz ausgeschlossen.

 

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