Metamorphose des Zentauren

30.10.2012, 15:00 Uhr
Metamorphose des Zentauren

© Hans von Draminski

Meist kam der Schmerz im Schlaf. Das heißt, genauer gesagt im Traum. Es war immer der gleiche Traum. Als mächtiger Zentaur — halb Mensch, halb Pferd, eine unvollendete Metamorphose, so oder so — galoppierte er in rasendem Tempo auf einen Abgrund zu. Er trug Zaumzeug. Die Trense drückte ihm weit hinein in die Mundwinkel, weil jemand mit voller Kraft an den Zügeln zog und zerrte. Er konnte den Mann nicht sehen, der da in einem Streitwagen hinter ihm hing und mit ihm untergehen würde, er konnte ihn nur hören — seine verzweifelten Rufe: „Brrrr, brrrrr, hoooohh!“ Aber, auch wenn sich die Stimme des Mannes vor Furcht überschlug, es war zu spät! Er wollte die Richtung nicht mehr ändern. Wozu? Das Ende konnte nicht schlimmer sein als diese ewige, laute Hatz, die man irgendwie gar nicht selber im Griff hatte. Irgendjemand lenkte — vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Und dann war er auch schon über die Klippe hinaus und im freien Fall.

Schweißgebadet wachte er an dieser Stelle regelmäßig auf. Klatschnass. Sein Kiefer schmerzte unerträglich — jedes Mal — so intensiv war der Traum. Diesmal aber kam noch etwas hinzu. Diesmal meinte er nach dem Aufwachen nicht mehr atmen zu können, so stark war der Druck im Rachenraum. Seine Wangen knisterten, seine Zähne mahlten, seine Nase blutete. Das Blut tropfte nicht, lief nicht, es zog in feinen Schlieren vor seinen Augen dahin, als würden sich rote, ausgefranste Fäden unter Wasser ausbreiten. Luft, Luft — er brauchte Luft. Aber da war keine. Die roten Fäden hingen wirklich im Wasser. Er selber auch. Weit unter der Oberfläche. Er drohte zu ersticken, zu ertrinken — qualvoll.

Als es nicht mehr ging, riss er seinen Mund endlich auf und schnappte... Wasser. Das ist der Tod, dachte er. Aber in diesem Augenblick sprangen seine Wangen auf, das Wasser strömte wieder hinaus und Kiemen leiteten Sauerstoff in seine Blutbahn. Er spülte zwei-, dreimal ungläubig Wasser durchs Maul und hinten wieder hinaus, dann wurde sein Atem — wenn man das nasse Hecheln so nennen wollte — ruhiger. Es reichte zum Leben, stellte er fest. Und der Schmerz war weg. Endlich!

So schwebte er in seinem neuen Element, klatschnass, wie sonst auch nach seinem Traum, registrierte er belustigt und ein wenig beängstigt zugleich. Eine solche vollständige Metamorphose — was sollte das? Er war ein Fisch — offensichtlich, auch wenn er sich nicht recht betrachten konnte. An ein Drehen des Kopfes war nicht zu denken. Nicht einmal genügend Neigung war drin, um mal an sich nach hinten entlangschauen zu können. Automatisch jedenfalls gelangen ihm Bewegungen, die man so macht als Fisch. Ein leichtes Auf und Ab mit den zarten Flossen am Rumpf. Ein kräftiger Schub nach vorn mit der Schwanzflosse. Wie sah er aus? War er ein Hecht geworden, ein Macho? Oder war er ein Karpfen geworden, ein Opfer? Vielleicht war er ein Aal. Nein, dachte er, dann hätte er sich kurzerhand gewunden und sich ohne Mühe bis zur Schwanzflosse betrachten können. Nicht unwahrscheinlich schien es ihm, ein breitmauliger Knurrhahn geworden zu sein. Freunde hatten ihn in letzter Zeit immer häufiger einen unverbesserlichen Grantler genannt. Egal!

Er begann seine Umgebung zu betrachten. Ein wenig unscharf war alles. Nicht unangenehm. Einige Fische schwammen betont hektisch im Wasser herum, als sei ihr Weiterkommen besonders wichtig. Das wirkte lächerlich bemüht, weil das dichte Element die rastlose Hast doch herabdimmte auf eine Art Zeitlupe der Geschäftigkeit — jedenfalls mit den Augen eines ehemaligen Luftbewohners betrachtet. Auch nicht unangenehm.

In der Unschärfe meinte er, einen leicht ungeordneten Schwarm kleiner Fische auf sich zurasen zu sehen. Alle sahen sich sehr ähnlich — uniform fast im Gesichtsausdruck. Sie erinnerten ihn an die Gesichter der Regierung aus seiner Luftwelt. Lauter kleine Fische, die sich für große Tiere hielten. Der unordentliche Schwarm war wie die Koalition. Zickzack ging es, kreuz und quer und doch irgendwie zusammen. Ein Angelafisch, mitten im Schwarm, war träger als die anderen. Er sah aus wie die Chefin dieses Haufens. Ein Stör raste immer wieder um den Schwarm herum. Er sah laut aus, trotz der Stille hier unten. Seine Mimik glich der des Außenministers. Das alles sah nach mehr aus als nur nach seiner Verwandlung.

Es war ruhig. Sehr angenehm. Kein Geschrei. Kein Getöse. Das Beste daran war, dass die prominenten Unterwasserakrobaten, so sehr sie auch immer mal wieder hin- und herschossen, unbeachtet blieben. Niemand nahm groß Notiz von ihnen. Der Fisch stinkt vom Kopf? Nicht hier unten. Hier unten gab es keinen Gestank. Nicht einmal Gerüche.

Ein Quastenflosser glitt ein wenig zur Seite, als die Aufgeregten in seine Richtung wirbelten. Ein Wels rührte sich überhaupt nicht.

Und er? Er war mit einem Mal auch — zumindest — sorgloser geworden. Wenn er hätte lächeln können, er hätte es getan. Was für ein Untergang! Da, wo die Welt einst hergekommen war, war sie wieder hin — ins Wasser. Mit wachsendem Vergnügen spülte er Wasserstoß nach Wasserstoß durch seine Kiemen. Stumm. Taub. Es gab nichts mehr zu sagen. Nichts mehr zu hören. Sehr angenehm. Auch der leichte Kitzel in seinem Kiefer, den er bei jedem Atmer empfand, war angenehm. Nur dass es nach einer ganzen Weile der schönen Schwerelosigkeit stärker wurde, das Kitzeln irritierte ihn ein wenig. Und als es anfing, vom Kitzel in einen leichten Schmerz überzugehen, wurde die Irritation zu einer ersten wiederkehrenden Sorge. Nein, keine Luft jetzt wieder — im Gegenteil! Mit einem leichten Druck in die Darmgegend presste er die letzte verbliebene Luft aus seiner Schwimmblase, um tief, ganz tief sinken zu können, ohne Wiederkehr, und dann schloss er seine Augen ganz fest. Aufwachen war nun wirklich das Letzte, was er wollte.


 

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