Mystischer Gesang in Roßtal

28.2.2017, 06:00 Uhr
Mystischer Gesang in Roßtal

© Michael Müller

Wie einfach und leicht das geht, bekommt der Berichterstatter beim Angebot "Gregorianik zum Mitsingen" an den eigenen Stimmbändern vorgeführt. Kaum betritt er den Saal im evangelischen Gemeindehaus von Roßtal, drückt ihm Weking Weltzer ein Liedheft in die Hand und fordert ihn zum Mitsingen auf. Die zwei Sänger und acht Sängerinnen im reiferen Alter freuen sich über den Zuwachs.

Der Choral zur Übung erfüllt genau das, was man sich gemeinhin unter gregorianischem Gesang vorstellt. Ein klangschöner Text auf Latein, den nur humanistisch Gebildete verstehen. Gott sei Dank liegt eine deutsche Übersetzung bei. Eine im wahrsten Sinne des Wortes monotone Aneinanderreihung der Silben, mit gelegentlichen Ausreißern in die Höhe und Tiefe. Der Einfachheit halber verzeichnet das Notenblatt nur die "Ausreißernoten" über dem Text. Die Grundtonart gibt Weking Weltzer mit der Stimmgabel oder einem Schlag aufs Glockenspiel vor.

Im Grunde folgt fast jeder gregorianische Choral demselben Schema. Den Beginn markiert das Initium, da hebt die Stimme an und steigt um zwei bis drei Noten, bis sie die Ebene des Rezitationstons erreicht hat. Auf diesem einen Ton sprechsingt der Sänger den Text, bis in der Mitte des Satzes eine Mittelkadenz — die Mediatio — für Abwechslung sorgt. Kaum ist dieser Schnörkel gemeistert, geht es im festen Geleise des Rezitationstons weiter, bis ein weiterer Tonabfall — die Terminatio — den Gesang beschließt.

Klingt kinderleicht, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Der monotone Rezitationston ist so bequem, dass jedes Abweichen genau bedacht sein will. Ebenso die Atemtechnik. Andererseits, nach drei Durchgängen sitzt die Melodie im Ohr. Dann wird eben weiter wiederholt. Und noch einmal. Und das ist das Eigenartige: Von Wiederholung zu Wiederholung gewinnt der Choral an Schönheit. Was zuerst langweilig klingt, wie eine akustische Schlaftablette für gestresste Multitasking-Karrieristen, gewinnt nach und nach eine fesselnde Qualität. Gar nicht einlullend, sondern fesselnd.

Auch dafür hat Weking Weltzer eine Erklärung parat. "Wer einen Psalm liest, gerät in die Gestimmtheit des Textes. Wer ihn spricht, spürt die Stimmung bereits stärker, und wer ihn singt, gerät immer tiefer hinein." Für den evangelischen Pfarrer im Ruhestand bedeutet der Gregoranische Choral nicht so sehr ein Singen, als vielmehr ein "klingendes Sprechen". Ein Sprechen in seiner ganz eigenen Schönheit. Und in dieser Schönheit, in diesem singenden Hören und hörenden Singen, komme Gott dem Sänger näher.

Darum auch bietet Weking Weltzer seit 20 Jahren Kurse zu gregorianischen Chorälen für Laien an. Es ist eine relativ leicht zu lernende Kunst, die sich aber nicht in Virtuosität erschöpft, sondern den Sänger innerlich zu sich selbst führt. Deshalb will sie ständig geübt sein. Als Übungsstätte wählt Weltzer mit Vorliebe alte fränkische Dorfkirchen mit ihrer ganz besonderen Geschichte und Stimmung. Dazu gehören neben Roßtal auch die Kirchen von Heilsbronn, Heidenheim, Eggolsheim und Auhausen.

Tücken der Aussprache

Freilich, hier und da gibt es kleine Tücken der Interpretation und der Aussprache. "Dona nobis pacem", steht da. Aber wie wird das ausgesprochen: "Pazem" oder "Padschem"? Heißt es, "Schola" oder "Skola"? "Das ist von Schola zu Schola verschieden", erläutert Weltzer. Italienische Mönche singen Latein in italienischer Diktion, und die Pater und Fratres hierzulande so, wie sie es in der Schule gelernt hatten. Und da kommt es wieder auf den Lehrer an. Da gibt es keine Experten, auch keinen Gregorianik-Papst, der genau weiß, wie dieses oder jenes Wort richtig ausgesprochen wird."

Auf einem Tisch liegt ein halbes Dutzend Bücher zur Einführung in die Materie, die Weking Weltzer zur Einsicht oder zum Kauf bereitgelegt hat. Mal blättern . . . Ein fachkundiger Autor spart nicht mit drastischer Kritik an der Popularisierung, die der gregorianische Choral in den vergangenen Jahren erfahren hat. Vor allem bei Überschneidungen mit Popmusik oder esoterischen Klängen ist für ihn das Ende des Glockenstricks erreicht.

Nach einer kleinen Stärkung im Wirtshaus nimmt die zehnköpfige Laienschola — ein gutes Dutzend ist für eine Schola optimal — im Chor der evangelischen Kirche in Roßtal Aufstellung und singt ein Marienlied auf Lateinisch.

So etwas hat es seit der Reformation hier selten gegeben. Doch Weltzer sieht darin keinen Widerspruch, vielmehr verweist er auf Martin Luther, der den gregorianischen Choral sehr schätzte, den Gesang aber von den geübten Vorsängern loslöste und die Gemeinde miteinbezog.

Nach der Chorprobe im Chor wird es wirklich feierlich. Da versammelt sich die kleine Schar in der Krypta. Bei Kerzenschein im Halbdunkel, umgeben von Jahrhunderte alten Säulen und Kapitellen, kommt weihevolle Stimmung ganz von allein auf. Die tolle Akustik tut ein Übriges.

Nun erschallt der Gesang aufs Neue, und wenn man die Augen schließt, glaubt der Zuhörer sich beinahe um ein gutes Jahrtausend zurückversetzt.

Keine Kommentare