Nachtschicht

3.6.2014, 09:30 Uhr
Ohren- und Augenzeuge am Straßenbahnhalt: Tobias Falberg.

© Horst Linke Ohren- und Augenzeuge am Straßenbahnhalt: Tobias Falberg.

Ich steige beim Plärrer aus der U-Bahn und die Treppen nach oben. Es ist 22.25 Uhr. Meine Straßenbahn, Linie 6, fährt erst in einer Viertelstunde. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke ganz nach oben. Dann nehme ich ein Taschenbuch aus dem Rucksack, „Mutmaßungen über Jakob“, stelle mich unter die golden glimmenden Glaskugeln der Laternen und lese. Auf der Bank sitzt ein alter Mann mit Basecup und grauem Stoppelbart, vielleicht Anfang Sechzig. Im Halbdunkel dreht er Zigaretten, vermutlich ist er darin gut geübt. Eine junge Frau kommt aus dem Treppenschacht, stellt sich dazu.

„Du siehst nicht glücklich aus“, sagt der alte Mann zu ihr.

„Nein, sehe ich nicht“, antwortet die Frau sofort, obwohl sie den Mann bestimmt gar nicht kennt.

„Warum denn?“, fragt der Alte.

„Hab mich getrennt.“

„Aha, du hast dich von deinem Mann getrennt“, fasst er zusammen, dreht weiter an seiner Zigarette und stellt direkt die nächste Frage, wie ein Ermittler, ganz ruhig. Er wirkt dabei nicht einmal aufdringlich. „Und warum?“

Ich verstehe die Antwort nicht genau. Ich höre nur heraus: „Eine Andere.“

„Aha“, sagt der Mann, und: „Das macht man nicht. Das macht man nicht in der Liebe.“

„Ah, und die ist so hässlich. Wie ich die hasse, diese Frau.“

„Und wo kommt sie her?“, fragt der Alte weiter.

Die Frau setzt sich neben ihn auf die Bank. Ihre Stimme klingt rau, aber warm, ein wenig südländisch. Meine Hände, die das Buch halten, sind eiskalt. Es ist eine Frühlingsnacht, in der sich noch einmal Winterwind austobt. Durch meine Jacke hindurch fühlt es sich an wie Frost.

„Vom Dreck“, sagt die Frau.

„Woher?“

„Na, vom Dreck.“

Der Alte schweigt kurz. Auf das seltsame Gespräch konzentriert, lese ich schon zum dritten Mal den endlosen Satz, in dem Gesine im nächtlichen Bruch hinter den Erlen auf dem Knüppeldamm plötzlich ihren Stiefbruder Jakob küsst, ohne den Inhalt zu begreifen. Die beiden auf der Bank reden weiter. Einige Autos rauschen Richtung Hauptbahnhof, übertönen die Worte.

„Und was hat dein Mann geantwortet?“, fragt der Alte.

Klingelnd fährt die Straßenbahn 4 ein. Ich verstehe nur das Wort „treu“. Der Alte lacht laut, mit belegter Stimme. Offenbar hat er Freude daran, sich die Situation vorzustellen, freut sich auch über die Aufmerksamkeit, die ihm von einer Fremden zuteil wird.

„Und was hast du zu ihm gesagt?“

„Ich habe auch gelacht“, antwortet die Frau.

Der Alte nickt zufrieden. „Und wo willst du hin?“, fragt er.

„Was?“

„Wo fährst du hin?“

„In die Klinik.“

„Was machst du da?“

„Frühschicht. Spätschicht. Nachtschicht. Ständig Schichten. Krankenschwester auf der Station.“

Wie zwei alte Bekannte sitzen sie nebeneinander und tauschen sich aus. Die Linie 4 fährt polternd los. Glücklicherweise sind beide geblieben, und ich fange gleich die nächsten Gesprächsfetzen auf. Scheinbar liegt die Trennung schon länger zurück.

„Nein“, sagt sie, „ich bin allein.“ Der Alte erwidert etwas. Sie sagt: „Nein, nein.“ Die Straßenbahn quietscht durch die Kurve davon. „Vielleicht fünf Jahre, vielleicht mehr. Ich brauche eine gewisse Zeit. Ich kenne mich. Er ist auch wieder allein“, fügt sie hinzu. Das freut sie, so hört es sich an. Keine bösartige Freude, es klingt wie eine erstaunte, Mut machende Feststellung, als wäre das eine Art Bestätigung der Beziehung, die sie geführt hat, vielleicht auch eine kleine Hoffnung.

Die Straßenbahn 6 fährt ein. Ich klappe das Buch zu, einen kältestarren Finger zwischen den Seiten. Ich bleibe am Fahrplan stehen, lasse die Frau vorbei, betrachte sie im Licht der Straßenbahn. Sie ist Ende Zwanzig, sportlich, schlank, ein wenig kleiner als ich. Ihr Haar ist nackenlang, fein gelockt, braun, mit vielen blonden Strähnen. Am linken Ohr trägt sie einen großen Creolenohrring, das andere ist vom Haar verdeckt. Ihre Haut ist milchkaffeefarben, die Augenbrauen sind schwarz und dünn gezupft über braunen, aufmerksamen Augen. Ihr Gesicht von einfacher, natürlicher Schönheit sieht verweint aus.

Der Alte bleibt auf der Bank sitzen, winkt mit seiner Zigarette in der Hand. Er scheint sich hier zu Hause zu fühlen, bis er irgendwann zu seiner Wohnung geht; vielleicht hat er auch keine. Ich steige hinter der Frau in die Bahn, überlege, ob ich mich zu ihr setze, nehme aber einen Vierersitz weiter Platz, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, so, dass ich sie sehen kann. Immer wieder blicke ich von meinem Buch auf. Sie spürt, wie ich sie mustere. Gern würde ich sie fragen, ob sie den Mann noch liebt, ob sie sich vorstellen kann, noch einmal neu mit ihm anzufangen.

Die Station Hallertor wird angesagt. Sie steht auf, stellt sich an die Tür, dreht mir ihren Kopf zu und erwidert meinen Blick mit ihren aufmerksamen braunen Augen. Dann schwingt die Tür auf, sie springt hinaus und rennt die Straße hinunter zu ihrer bald beginnenden Schicht.

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