Night-Neid

9.7.2013, 09:23 Uhr
Night-Neid

© Draminski

Ich war nie neidisch. Auf nichts und niemanden. Eher konnte man mich einen fröhlichen Gönner nennen. Einen, der anderen nur Gutes wünscht und Erfolg und Reichtum und so. Ja, ich war Altruist, durch und durch – tagsüber.

Nachts sieht das mittlerweile anders aus. Ich schlafe schlecht. Das macht mich nächtens missmutig, fast griesgrämig. Da ich mittlerweile jede Nacht stundenlang wach liege, meistens so ab fünf, habe ich viel Zeit, missmutig und griesgrämig zu sein. Und ich bin neidisch. Auf alle, die gut schlafen können. Ich habe viel Zeit damit verbracht, hinter die Gründe meiner Schlaflosigkeit zu kommen.

Waren es die Grübelgedanken, die mich wachhielten, die Sorge ums Land? War es das provokant-gleichmäßige Tiefschlafschniefen meiner Frau, die immer gut schläft? War es eine zu kühle Zimmertemperatur oder ein zu warmes Oberbett? Ich wusste es schlicht nicht, obwohl ich etliche Stunden zwischen fünf und sieben diesem Problem gewidmet hatte. Aber dann las ich in der Zeitung den eigentlichen Grund: ich bin zu schlau! Gut, der Artikel drückte es nicht genau so aus, aber dennoch: Eine Studie, die an immerhin 40000 Taiwanesen durchgeführt worden war, lieferte die sensationelle Erkenntnis, dass ungebildete Männer besser schlafen als gebildete.

Bei Frauen ist es übrigens umgekehrt. Sie schlafen besser, je höher ihre Bildung ist. Logisch also, dass meine Frau leidlich schläft und ich so miserabel, so hundsmiserabel. Genaugenommen schlafe ich nämlich auch zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens nicht wirklich gut, stellte ich unter dem Eindruck der neuen Erkenntnis fest. Fast musste man sagen, dass ich nahezu schlaflos durchs Leben ging. Mit dieser neuen Erkenntnis im Hinterkopf sah ich die vielen Männer, die mit mir zur Arbeit fuhren – in den Bussen und Bahnen – mit zwar müdem, aber entlarvendem Blick an. Es gab überraschend viele einfältige Exemplare, die schon am frühen Morgen hellwach in ihre kleinen Bildschirme schauten.

In gewisser Weise musste ich über mich schmunzeln. Normalerweise war man neidisch auf jemanden, der mehr hatte als man selber: mehr Geld, mehr Schönheit, mehr Glück. Aber Neid auf jemanden, der weniger zu bieten hatte? Trotzdem wollte ich die Tage endlich auch wieder ausgeschlafen genießen können wie meine minderbemittelten Geschlechtsgenossen. Ich beschloss, mich zu entbilden. Der geniale Gedanke war mir irgendwann zwischen fünf und sieben Uhr morgens gekommen! Gleich nach der nächsten schlaflosen Nacht wollte ich mit der Entbildung beginnen, um vielleicht schon die nächste wenigstens einige Minuten länger schlafen zu können.

Aber der Tag verging in einer einzigen Qual. Wie, um Himmels Willen, stellt man das an? Wie entbildet man sich? Wie macht man das? Man kann sich ja nicht einfach ein Vergessen verordnen. Die Entbildung muss wahrscheinlich mehr unbewusst vonstatten gehen, dachte ich. Aber auch hier: Wie nur? Soll man sich nachmittags vor die Glotze hängen und stundenlang Gerichts- und Talkshows ansehen – ohne sich Pausen zu gönnen, Pausen, in denen der Verstand wieder erwachen könnte und die Gehirnwäsche zunichte machen würde? Sollte man eine Weile lang nur Politikern zuhören, um dem Hirn ein Schnippchen zu schlagen und Wahlverwandtschaften, die irgend so ein Dichter mal ins Leben geschrieben hatte, schlichten Gemüts als große Koalition begreifen? Kann man sich Bildung eventuell weglesen, indem man sich gezielt verliest?

Wenn man den Begriff „Entbildung“ googelt, kommen hauptsächlich Links zu Seiten, die genau darauf beruhen, dass sich jemand verlesen hat oder verschrieben. Da erfahre ich etwas über das Verhalten der weißen Blutkörperchen während der Entbildung und im Wochenbett. Oder es wird mir nach der Entbildung eine Vaginalsalbe empfohlen – während der Stillzeit zumindest. Was, bitte, soll ich mit einer Vaginalsalbe anfangen?

Einige schlaflose Nächte später, als ich wieder mal in meiner üblichen Wachphase nachdenklich dem gleichmäßigen Atmen meiner Frau lauschte, kam ich zu dem Schluss, dass mich allein schon die Art, wie ich versuchte, mich meiner Bildung zu entledigen, brandmarkte als gebildeten Mann, als übermüdeten Mann. „Viel zu kompliziert“, scholt ich mich. „Du machst das viel zu kompliziert!“...und ich versuchte der Misere zu entkommen, indem ich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlug.

Ich wollte wieder einschlafen. Meine Bildung stand dem im Weg – auch meine mathematische. Also begann ich Schäfchen zu zählen und mich dabei scheinbar unbeabsichtigt zu verzählen. „Eins“, zählte ich, und noch „zwei, drei, vier...“, um meinen Bildungsspeicher sozusagen in Sicherheit zu wiegen. Aber dann legte ich los: „...sieben, zwölf, hundertneun, tausenddreiundvierzig...“

So lag ich diesmal beim zweimillionensten Schäfchen noch wach, wo ich sonst vielleicht erst bei zweihundertzwölf gewesen wäre.

Meine Frau schniefte gleichmäßig und schwieg. Eine Entbildung von der Schweigepflicht, meldet z.B. die Gewerkschaft der Polizei Brandenburg in einem Link der Suchmaschine, eine Entbildung von der Schweigepflicht komme nur insoweit in Betracht als Auskünfte benötigt würden, die für die Entscheidung über Rechtsschutz von erheblichem Belang seien.

Ich weckte meine Frau, um mit ihr diesen interessanten Aspekt von Entbildung zu diskutieren. Es würde sie weiterbilden, argumentierte ich in ihr müdes Gesicht, und sie würde hernach noch besser schlafen können – als Frau! Ich sei ja wohl völlig bekloppt, lallte sie schlaftrunken knapp, und war, noch bevor ich sie über die lustige Paradoxie dieser Aussage – ein bekloppter Mann, der nicht schlafen kann – aufklären konnte, wieder eingeschlafen. Und ich lag wach und allein mit meiner Bildung herum, die ich nicht loswurde.

Es ist wahrscheinlich so, dachte ich, dass man sein Schicksal annehmen muss.Ich schaute den abermillionen Schäfchen zu, die über meine Weiden strichen, flüsterte hier dem einen ein „vierhundertachtundneunzig“ ins rosa Ohr, da einem ein verschmitztes „siebentausendsiebenhundertsiebenundsiebzig“ und erfreute mich meiner großen Nähe zur Natur und der eher einfachen Kreatur in ihr, einer Nähe, die dem Gebildeten sonst kaum möglich ist.

Und dann kam er doch noch, der grandiose Einfall wie es gehen könnte, gerade als ich in Einklang kam mit dem warmen, leichten Wind von den Bergen, der sich in der Wolle meiner Schafe zu einem sanft säuselnden Wiegenlied verwandelte, das mit einem rhythmischen Bächleinrauschen unterlegt war, welches mich irgendwie an das Tiefschlafschniefen meiner Frau erinnerte. Leider klingelte ausgerechnet in diesem Augenblick der Wecker!



 

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