Nostalgia

4.9.2012, 09:39 Uhr
Nostalgia

© Hans Winckler

Doktor, es hat keinen Sinn. Ich lese in Ihren Gedanken, dass Sie mir nicht glauben. Und machen. Sie doch einfach den Gürtel einLoch weiter, wenn Ihr Raumanzug kneift.“ Ich erschrak. Wie hatte ich vergessen können, meine Gedanken abzuschirmen? Das durfte einem erfahrenen Parapsychologen einfach nicht passieren. Der junge Astronaut musterte mich, als lese er jeden Gedanken mit. Ich versuchte, mich zusammenzunehmen. Was zum Teufel war mit mir los? Lag es an den kosmischen Strahlungen in dieser entlegenen Ecke des Universums? Oder tatsächlich an Nostalgia, dem silbrig schimmernden Planeten unter uns, wie der junge Astronaut zu glauben schien?

Tatsache war, dass hier alles aus dem Ruder lief, deshalb war ich hier. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für mysteriöse Geschichten gehabt, und dies schien eine zu sein. Bei der NASA wussten sie nicht genau, was auf der Raumstation vor sich ging. Nur so viel, dass die ganze Crew auf dem besten Weg war, durchzudrehen.

Ich versuchte, die Gedanken des jungen Astronauten zu lesen. Keine Chance. Dabei war ich ein guter Telepath. Aber das war ja die Crux an der Telepathie. Kaum hatten die Menschen begonnen, diese Kunst gezielt zu trainieren, war es auch schon notwendig geworden, Schutzmaßnahmen dagegen zu entwickeln. Die ersten ausgebildeten Telepathen waren schlichtweg verrückt geworden. Sie waren zusammengebrochen unter dem Dauerbeschuss mit Gedankenlärm.

...noch Milch einkaufen Mist das zwickt müsste mal wieder zum Arzt was wollte ich noch gleich da kommt Robert der wird auch immer dicker igitt dieser Spuckefaden im Mundwinkel wie der sich dehnt wenn er spricht eklig aber wegschauen kann ich auch nicht...

Von allen Seiten strömte chaotisches Gedankengeplapper auf sie ein. Kein Wunder, dass einer nach dem anderen in der Psychiatrie landete, wo es ihnen natürlich auch nicht besser erging.

Immerhin kam dadurch eine neue Debatte über den Sinn und Wert von schrankenloser Offenheit in Gang. Wenn Sie mich fragen, hat es nichts mit Unehrlichkeit zu tun, gewisse Dinge für sich zu behalten. Die Gedanken sind frei, und das ist gut so. Warum sollte man andere mit jedem Furz belästigen? Es ist so entlarvend wie peinlich, wenn plötzlich alle dummen Gedanken, Empfindlichkeiten und Eitelkeiten offen zu Tage liegen. Machen wir uns nichts vor, wir sind schließlich alle keine Engel. Zum Glück gelang es den Psychologen, brauchbare Abschirmtechniken zu entwickeln, ehe die Leute Amok liefen.

Und nun las dieser junge Astronaut meine Gedanken, als ob sie mir auf der Stirn stünden. Vielleicht lag es wirklich an der Strahlung des Planeten. Ich starrte aus dem Panoramafenster. Ganz Nostalgia war bedeckt von einem schimmernden Meer. Einen Augenblick lang hatte ich das verrückte Gefühl, dass diese silbrig wogende Masse lebendig war. Ich blinzelte unbehaglich. „Sie haben es erfasst“, sagte der junge Astronaut.

„Unsinn“, sagte ich und merkte zu spät, dass er schon wieder meine Gedanken gelesen hatte. Ich tastete noch einmal nach seinen Gedanken. Wenn ich ein wenig nachbohrte... „Wollen Sie es wirklich wissen?“, sagte er. Ich fühlte mich ertappt. „Natürlich“, sagte ich etwas barscher als nötig. „Deswegen bin ich hier.“

Er gab seine Abschirmung auf. Zunehmend fassungslos folgte ich seinen Gedanken. „Sie glauben allen Ernstes, dass Nostalgia Ihnen Träume beschert!?“

„Träume und Alpträume“, erwiderte er. Mir fiel auf, wie müde er aussah. „Schlafen Sie mal ein paar Stunden“, sagte ich väterlich. Er verzog die Lippen. „Lieber nicht. Wollen Sie wissen, wo die anderen sind?“ Ich zuckte zurück. Offensichtlich stand es schlimmer um ihn, als ich gedacht hatte. Er glaubte, seine Kollegen hätten sich in ihren Kabinen verbarrikadiert, umgeben von — nein, das gab es nur im Kino! Der junge Astronaut zuckte die Schultern. „Dann müssen Sie eben Ihre eigenen Erfahrungen machen.“

Zum Glück öffnete sich in diesem Moment die Durchgangsschleuse. Vielleicht bequemte sich endlich der Commander... Mir stockte der Atem, als ich erkannte, wer es war. Das war ein Traum. Es musste ein Traum sein. „Hallo“, sagte sie. Der junge Astronaut erwiderte ihren Gruß. Ich blickte zwischen den beiden hin und her. War Verrücktheit ansteckend? „Du machst dir zu viele Gedanken, wie immer“, sagte sie und griff nach meiner Hand. Ihre Hand fühlte sich warm und lebendig an. Es war nicht zu fassen. Ich brauchte Schlaf, das war es. Vielleicht auch einen Psychiater, der etwas von kollektiven Wahnvorstellungen verstand. Aber ich ließ ihre Hand nicht los. Sie fühlte sich so vertraut an, sie zu spüren, auch wenn sie unmöglich diejenige sein konnte, als die sie auftrat.

Wer war sie, welche Absichten verfolgte sie? Wenn ich ihr noch einen Moment länger in die Augen sah, würde es mir gleichgültig sein. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich die Schleuse schloss. Der Astronaut hatte uns alleine gelassen.

„Würdet du mir ein paar Fragen beantworten?“, sagte ich kurzentschlossen. In ihren Zügen zeichnete sich leichte Unsicherheit ab. „Kommt drauf an, was du wissen willst“, sagte sie. „Ich kann dir viel erzählen. Alles.“ Ich blickte auf Nostalgia herab. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Wie gesagt, ich halte es für legitim, ein paar Dinge für sich zu behalten. Aber ich hatte schon immer eine Vorliebe für mysteriöse Geschichten, und dies schien eine von komischen Dimensionen zu sein...



 

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