Romantische Achterbahnfahrt im Kufo

3.11.2018, 18:58 Uhr
Romantische Achterbahnfahrt im Kufo

© Foto: Marcus Weier

"Ich würde mir wünschen, dass die Zuhörer unseres Abends ein Stück weit der vernunftgesteuerten Wirklichkeit entrückt werden." Dies hatte Johannes Reichert, Spiritus Rector des ungewöhnlichen Duett- und Klavierabends, im Gespräch mit den FN formuliert. Dass man es genau so im gut besuchten großen Saal des Kulturforums spüren konnte, war der fesselnden Darstellungskraft, dem intensiven musikalischen Verständnis und der Harmonie der vier Musiker zu verdanken, deren ungemein modulationsreiches Spiel den Spannungsbogen nie abreißen ließ.

Die Kenntnis des Interviews über die fehlende Tradition des Counter-Gesangs im romantischen Lied war wichtig für das Verständnis der Werke und Interpretationen. Leider ließ das Programmblatt die Hörer über den "roten Faden" von Reicherts Motivation völlig im Dunkeln; auch im Wortsinn, weil die Beleuchtung im Publikumsraum ausgeschaltet wurde und selbst die Liedtexte im Programmheft nicht mehr lesbar waren.

Konzerte von Countertenören sind derzeit durchaus in Mode gekommen, in der Regel mit Liedern und Arien aus Barock oder Renaissance. Allein Philippe Jaroussky hatte Mélodies françaises von Fauré, Caplet oder Hahn vor Jahren im Programm. So ist Reicherts Beschäftigung mit Liedern der deutschen Hochromantik überaus willkommen, zumal es in schöner Eintracht der miteinander Musizierenden und dem Wechselspiel differenzierter Expressivität geschieht.

Margitta Rosales und Johannes Reichert, aus gemeinsamen Fürther Musikprojekten bestens miteinander vertraut, hatten Mendelssohn-Bartholdys "Gruß" passend an den Anfang gesetzt, ließen den sängerischen Blick über Wälder und Auen schweifen und wanden Kränze aus Gedanken für die Liebe im Herzen.

Schumanns "Schön Blümelein" wurde zum Spiel gepflückt, zum Dank verschenkt und in froher Erinnerung gehalten. Brahms ließ die beiden mit sanften Stimmen als Wanderer "Am Strande" entlangziehen, strich in "Hüt Du Dich" zärtlich übers Haar der Angebeteten, bei der er selbst kein Glück hatte. So entstanden an Stelle purer Rezitation romantischer Dichtkunst verspielte Augenblicke, potenzierte die Musik die Offenbarung von Gefühlen, ließ das heimliche Tête-à-tête Einblicke in die Seele des anderen zu.

Wenn Brahms Briefe schreibt

Beeindruckend war die durchgängige Textverständlichkeit. Reicherts Countertenor erschien in seiner stimmlichen Süße und emotionalen Unmittelbarkeit für das Sentiment dieser Duette wie geschaffen. Seine melodische Entfaltung ebenso wie die sprachliche und artikulatorische Subtilität überzeugten. Rosales‘ Sopran, in der Höhe mit feiner Leuchtkraft ansprechend, überwältigte auch in wunderbar weichen Regionen ihres Mezzo-Registers. Das ließ Textdeutung von keckem Schalk, augenzwinkerndem Liebesspiel und traumverlorener Wehmut in schnellem Wandel fühlbar werden. Im Zusammenklang verschmolzen die Stimmen perfekt. Reicherts hohe Lage schien oft über Rosales‘ Mezzotimbre zu schweben.

Dass romantische Komponisten nicht nur in der Heiterkeit ihrer Naturschilderungen oder der Wunde von Todeserfahrung lebten, führte Reichert bei der Rezitation von Ausschnitten ihrer Briefe vor. Da war Johannes Brahms 1896 finanziell etwas klamm und bat seinen Verleger Simrock um Vorschuss "einer Mille", um den Schneider für seinen neuen Rock zu bezahlen. Da klagte Mendelssohn über den Zustand einer Orgel, deren Cis "dauernd fortsauste" und wo er mit dem Schnupftuch am Orgelwerk eine Reparatur vornehmen musste. Das sorgte für Schmunzeln, erdete die Vorstellung vom marmornen Sockel, auf den Schumann oder Schubert oft gestellt werden.

Ein wenig Lebensgeschichte hätte man gern auch vom brasilianischen Duo Aurore gelesen. Renata Bittencourt und Diego Munhoz widmeten sich einerseits dezent und aufmerksam der Begleitung der Duette, entfachten selbst darüber hinaus in vierhändigen Walzern von Brahms schwingende Seligkeit und im Bärentanz aus Schumanns Klavierstücken für Kinder orientalischen Klangreiz.

In Schuberts großer f-moll-Fantasie, in die Mitte des Programms platziert, stellten sie ihre virtuosen Fähigkeiten heraus, zeigten pointiert die Sonatenstruktur dieser freien Tondichtung, deren Teile im fantasievollen Programmumfeld des Abend, geradezu wie Lieder ohne Worte, aus persönlicher Intuition der Zuhörer mit Inhalt gefüllt werden konnten.

Viel herzlicher Beifall am Ende, der mit einem Gedicht aus Brahms‘ Liebesliederwalzern und einer verschmitzt-amüsierten Wiederholung von Schumanns eindrucksvollem Duett "Wenn ich ein Vöglein wär" belohnt wurde.

Verwandte Themen


Keine Kommentare