Sehnsuchtsorte in einer Welt der Traurigkeit

16.8.2015, 12:30 Uhr
Sehnsuchtsorte in einer Welt der Traurigkeit

© Archivfoto: Dirk Fischer

Eine Woche lang hatte Mirijam Günter zuvor im Kinderheim St. Michael zwei Buben und zwei Mädchen im Alter von 14 bis 16 Jahren ans Erzählen und Schreiben herangeführt. So etwas geht nicht von jetzt auf gleich, so etwas dauert. Und es funktioniert mit scheinbar simplen Fragen: Wer bin ich? Wohin will ich?

Der Trick besteht darin, dass die Antwort nicht unbedingt der Realität oder der Außenwahrnehmung entsprechen muss, sondern der Innenschau. Dabei kommen dann staunenswerte Metaphern heraus. So sieht die junge Lisa ihre Vergangenheit als den „Gipfel eines Berges, von dem alle Wege ins Tal führen“. Und die Zukunft? Dass alle Wege zum Gipfel zurückführen.

Verkrochen ins Selbst

Auch Nina schreibt — und liest aus ihren Texten vor. Vom Tod der geliebten Großeltern, von den folgenden zwei Jahren, in denen sie sich in ihr Selbst verkroch, kaum ein Wort sprach, dafür lieber Comics zeichnete. Ihr Sehnsuchtsort: der Grund des Ozeans. Marcel und Dilan hingegen tragen keine eigenen Texte vor, sondern lesen aus Mirijam Günters neuem Jugendroman „Die Stadt hinter dem Dönerladen“.

Es mag sich zuerst etwas kurios anhören, wenn die 15-jährige Ich-Erzählerin Nicky mit einer Bubenstimme spricht, aber das funktioniert besser als gedacht. Denn Dilan liest mit einer unterdrückten Wut in der Stimme, einer Wut, die sich langsam aufbaut und, je weiter das Unverständnis der Erwachsenen andauert, die Stimme immer gereizter klingen lässt.

Es gibt ja auch allen Grund dazu: Die beziehungsunfähige Mutter vergrault ihren besten Freund und Nickys Vaterersatz, die beste Freundin verschwendet ihren Idealismus an die dämlichsten Typen, und sowieso verhalten sich die Erwachsenen kindischer als echte Kinder.

Da mag so einiges aus Mirijam Günters eigener Vergangenheit mitschwingen, denn die gebürtige Kölnerin, Trägerin des Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreises 2003 für ihr Erstlingswerk „Heim“, hat in jungen Jahren selbst eine turbulente Heimkarriere durchlaufen und kennt nur zu gut das schale Gefühl, nicht wirklich geliebt, sondern bestenfalls als ein pubertärpsychologischer Problemfall betrachtet zu werden. Als einer unter vielen.

Hat Dilan ordentlich Wut in seine Lesung gepackt, so trägt Marcel eher zurückhaltend vor. Traurigkeit grundiert nun die Stimmung, eine Traurigkeit, die kontinuierlich wächst und selbst den ersten Mutter-Tochter-Krach des Buches in die Aura totaler Hoffnungslosigkeit taucht. Egal, wie der Streit ausgeht, beide reden aneinander vorbei. Und so wird es immer weiter gehen.

Fazit: Manchmal ist es in der Tat besser, wenn nicht Erwachsene aus ihren Büchern vorlesen sondern Halbwüchsige. Denn sie treffen intuitiv den richtigen Ton. Nur über eines kann sich Mirijam Günter bei ihrem Fürth-Besuch richtig ärgern: „Aus dem Kinderheim St. Michael war kein einziger Mitarbeiter bei der Lesung dabei. Die Kinder haben sich so angestrengt, und dann hört von denen keiner zu!“

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