Sixpacks im Sechszylinder

28.12.2011, 09:00 Uhr
Sixpacks im Sechszylinder

© Thomas Scherer

Henry, der in Wirklichkeit natürlich nicht Henry hieß, hatte den Vorschlag gemacht. Ich war darauf eingegangen, obwohl der wichtigste Teil des Plans darin bestand, dass wir mein Auto nehmen würden und ich es fahren sollte. Henry, an dessen richtigen Vornamen ich mich nach so vielen Jahren gar nicht mehr erinnere, fiel die Aufgabe zu, ununterbrochen Zigaretten zu drehen, ab und zu einen Joint beizumischen und mir aus den drei Sechserträgern Bierdosen zu reichen.

Nachdem ich gegen vier Uhr nachmittags aus dem Bett gekrochen war, sammelte ich Henry ein, und wir machten uns zügig auf den Weg. Nach Straßburg sollte es gehen, wo ein Freund von uns ein Auslandssemester verbrachte. Der Zwei- Liter-Motor meines feuerwehrroten Ford Taunus blubberte sein grandioses Lied von Freiheit und Abenteuer, wir trugen spitz zulaufende schwarze Lederschuhe, dazu betont taillierte schwarze Jacketts, hatten die Haare senkrecht nach oben gesprüht und fühlten uns jung wie der Frühling, der vor einigen Tagen angekommen war.

Wir fuhren stur nach Westen, der Sonne nach und verloren nur einmal, bald nach Einbruch der Dämmerung, die Orientierung an einem Autobahnkreuz. Doch unserer guten Laune tat das keinen Abbruch. Gemütlich kiffend kreisten wir solange um das vierblättrige Kleeblatt der Zu- und Abfahrten, bis Henry, der reglos aus dem Seitenfenster starrte, an einem Abzweig sagte: „Hier sind wir richtig.“

„Woher bist du dir so sicher?“, fragte ich.

„Das hat mir der gute Geist geflüstert“, sagte er. „Heute. Später. Weiter.“ Kommentarlos folgte ich seiner Anweisung, denn ich kannte Henry gut genug, um mich nicht mehr über seine manchmal rätselhaften Einwürfe zu wundern. Er galt in unserem Freundeskreis als Experte in allen esoterischen Belangen, wobei auch gewisse psychedelische Einflüsse eine Rolle spielten.

Die sechs Zylinder meines Straßenkreuzers knatterten fröhlich den Takt zu der kruden Mischung aus Punk und 70er-Jahre-Rock, die aus dem Kassettenrekorder dröhnte: Sex Pistols, New York Dolls, gemischt mit Led Zeppelin und Pink Floyd. Und so erreichten wir spät abends Frankreich und den Ort, wo unser Freund seine Zelte aufgeschlagen hatte.

Wir rumpelten über das Kopfsteinpflaster der Straßburger Innenstadt und wunderten uns, dass so wenig Autoverkehr herrschte. Einer heranrasenden Niederflur-Straßenbahn nur knapp entkommen, setzte ich das Auto auf den Bordstein vor einer Gendarmerie-Station. „Wir sind schon richtig, keine Sorge“, sagte Henry, und öffnete eine zischende Bierdose.

„Ich frag bloß mal nach, rein aus Neugier“, erklärte ich und stolperte zum Eingang. Meine Beine waren von den fünf Stunden ununterbrochener Fahrt steif geworden.

Mit verschränkten Armen ruhte ebenso schwer wie schwer gelangweilt ein französischer Polizist auf einem abgeschabten Tresen. „Bon jour“, grüßte ich, „Rue de Fournier?“ Und hatte damit meine Kenntnisse des Französischen schon restlos verpulvert.

„Ahrng“, grunzte der Gendarm und kratzte sein stoppeliges Kinn. Ohne hinzusehen zog er unter der Theke einen fotokopierten Zettel ans Licht. Dann fummelte er hinter seinem Ohr einen klassischen Metzgersbleistift hervor, dick wie ein Ast und mit dem Hackebeil gespitzt. Auf der verwaschenen Kopie einer Kopie einer Kopie eines Stadtplans drückte er ein gewaltiges „X“ genau in die Mitte.

„Nous sommes ici“, knurrte er. Sein Atem roch nach Zigaretten und Cognac. „Rue de Fournier ici“, fügte er an und schabte ein zweites Kreuz ganz rechts am Rand des Zettels. Dann zog er mit so viel Kraft, dass die Bleistiftmine abknickte, einen geraden Strich von uns zum Zielpunkt. „Voila!“ triumphierte er und knallte mir den Zettel an die Brust.

„Und?“, fragte Henry, als ich mich wenig später auf den Fahrersitz fallen ließ.

„Kein Problem“, sagte ich, „immer geradeaus“, und nahm einen Zug vom Dübel.

„Hab ich doch vorhin schon gesagt“, brummte Henry, und ganz kurz stutzte ich, denn er war ebenso wenig wie ich jemals zuvor in Straßburg gewesen.

Ich fuhr los, heraus aus der Fußgängerzone, so geradeaus wie ich konnte und ungefähr in die Richtung, in der ich unseren Freund vermutete. Wir kamen in immer tristere Vororte, tuckerten zwischen hoch aufgetürmten Plattenbauten, während wir die letzten Biere verklappten. Schließlich mussten wir beide dann doch einmal pinkeln, und mangels einer besseren Gelegenheiten setzte ich den Ford auf die Grünfläche inmitten eines Kreisverkehrs.

Wir steigen synchron aus, einer links, einer rechts, rissen die Hosenläden auf und wässerten das verkrüppelte Gras. Ich ließ den Blick schweifen, doch plötzlich nahm mich der Anblick eines schmalen Männleins völlig gefangen.

„Siehst du den Typ dort drüben? Was macht der da?“, fragte ich Henry. Die schwarze Gestalt trug einen breitkrempigen Hut und spazierte an einer gegenüberliegenden Mauer entlang, ohne von der Stelle zu kommen, scheinbar wie am Boden festgenagelt.

„Für mich sieht es so aus, als käme der nicht vom Fleck“, sagte ich aufgeregt, „obwohl er die Beine bewegt. Nicht einmal sein Schatten bewegt sich vorwärts!“

„Das täuscht“, meinte Henry gütig, als spräche er zu einem Kleinkind. „Der war die ganze Fahrt über neben uns. Von ihm weiß ich doch, wo wir hin müssen. Übrigens“, fuhr er fort, „wir sind da.“ Und er deutete direkt voraus auf das Schild, auf dem stand: „Rue de Fournier“.

Ich überlegte kurz, ob ich das schwarze Strichmännchen einfach ansprechen sollte, doch als ich wieder hinsah, war der Geist verschwunden. Ich entschied, dass es jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen, und beließ es dabei, bis zum heutigen Tag.

Das Auto ließen wir der Einfachheit halber auf der Verkehrsinsel stehen. Die Wohnung unseres Freundes war dann auch schnell gefunden und er freute sich sehr über unsere Ankunft, auch wenn wir ihn, da wir selbstverständlich vergessen hatten, uns anzukündigen, aus dem Schlaf klingeln mussten ...

 

Keine Kommentare