Spielerische Erziehung

14.2.2012, 11:00 Uhr
Spielerische Erziehung

© Scherer

Hermann liebte es, mit seinem Sohn auf den Spielplatz zu gehen. Das Kind spielte und er las so lange sein Buch. Manchmal, wenn nicht genügend andere Kinder auf dem Spielplatz waren, musste er sein Buch zur Seite legen, um für kurze Zeit als Captain Hook oder als Lord Voldemort den Bösen zu spielen, um dann nach kurzem, heftigen Kampf zu fallen, aber im Allgemeinen waren die Stunden auf dem Spielplatz doch für beide Seiten höchst befriedigend: Hermann las und Otto spielte.

Es war ein sonniger Vorfrühlingstag und der Spielplatz war voller Kinder und die Bänke voller Eltern. Hermann, der sonst lieber alleine saß und las, hatte sich mit einem höflichen Nicken neben eine junge Frau gesetzt, die hauptsächlich damit beschäftigt war, ihr Kind zu filmen und von der keine Störungen zu erwarten waren. Diese Annahme stellte sich als bedauerlicher Irrtum heraus. Hermann war erst bei Seite 22, als die junge Frau ihn ansprach:

„Ich habe Sie schon öfter hier gesehen“, sagte sie. Hermann sah kurz von seinem Buch auf und nickte. Das war glücklicherweise keine Frage und er brauchte nicht zu antworten. Aber die junge Frau gab nicht nach. „Sind Sie auch alleinerziehend?“, fragte sie, während sie gleichzeitig wieder ihre schicke Kamera hob, um ihren Sohn zu filmen. Hermann ließ sein Buch sinken und dachte kurz an die pädagogischen Diskussionen mit seiner Exfrau, an Theo, der seinen kleinen Bruder beim Bundeswehrfest auf den Schießstand mitgenommen hatte, an seine Schwester Philly, die ihn gerne als Mädchen verkleidete sowie an die beiden Großelternpaare, die den zukünftigen Otto gerne wahlweise als Krankenpfleger oder als Nuklearwissenschaftler betrachteten, und antwortete wahrheitsgemäß: „Nee, ich glaube eher nicht!“

Es hätte gar keine ernsthafte Überlegung gebraucht, denn die junge Frau redete einfach weiter.

„Spielen ist ja das Wichtigste für die Entwicklung“, teilte sie Hermann mit, „im Spiel lernen die Kinder fürs Leben.“

Hermann legte seufzend sein Buch zur Seite. Er kannte diese Sorte junger Frauen. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als hörte er sie nicht. Es gab nur einen Weg zurück zu einer ruhigen Lesestunde, und der führte über ein Gespräch.

„Ich habe alles darüber gelesen“, fuhr die junge Mutter fort. Sie hatte einen Traumfänger als Halskette und der Kaffee in ihrem Pappbecher stammte aus fairem Handel.

„Ist das so?“, fragte Hermann.

„Klar!“, sagte die junge Frau. Hermann sah hinüber zu Otto. Der belagerte mit seinem Holzschwert gerade die Burg, aus der die Rutsche führte. Oben warfen jubelnde Kinder ein paar übrig gebliebene Fichtenzapfen, um sich zu verteidigen. Offensichtlich ging der Kampf um Leben und Tod, denn ständig fiel eines der Kinder um und schrie: „Ich sterbe!“, nur um danach gleich wieder aufzustehen und weiterzukämpfen. Hermann seufzte. Er hätte so schön lesen können.

„Was ein Kind spielt, das bestimmt später sogar die Berufswahl!“, erklärte die junge Frau ernsthaft weiter, „also, früher, wenn die Kinder Soldat gespielt haben, oder Räuber und Gendarm, so Spiele mit Waffen... also, ich meine, es kommt ja nicht von ungefähr, dass von Deutschland zwei Weltkriege ausgingen, nicht wahr?“

Hermann war froh, dass Otto heute nur sein Holzschwert und nicht die Plastik-MP mitgenommen hatte, die Theo ihm geschenkt hatte, aber trotzdem hoffte er, dass er nicht gerade jetzt zu ihm herüberkam.

„Äh, na ja“, sagte er schwach.

„Mit Cheyenne-Pascal habe ich ja schon ganz am Anfang ganz bewusst auch mit Puppen gespielt“, sagte die junge Frau, „wegen der Geschlechterrollen und so. Machos werden erzogen, die kommen nicht so auf die Welt.“

Am Fuße des Rutschenturmes schrie Otto nach oben:

„Rapunzel, lass dein Haar herunter! Ritter Starkmann kommt, um dich zu retten!“

Allmählich fühlte Hermann sich ernsthaft unbehaglich. Vielleicht hatten sie auch beim dritten Kind alles falsch gemacht. Nicht einmal seine Exfrau wäre auf den Gedanken gekommen, mit Otto Puppenküche zu spielen. Unauffällig drehte er sein Buch um. Er hatte den Eindruck, dass „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche vielleicht nicht gerade das richtige Pamphlet gegen anerzogene Geschlechterrollen war.

„Und diese Gewinn- und Verlierspiele!“, ereiferte die junge Frau sich jetzt, „immer gibt es Verlierer. Was das in der Seele eines Kindes anrichtet! Ich hab mein ,Mensch, ärgere dich nicht‘ umgearbeitet. Cheyenne-Pascal und ich spielen es so, dass die schwarzen Figuren die japanischen Walfänger sind und wir haben die grünen Frauchen und würfeln die Ökofaschisten aus dem Meer. Cheyenne-Pascal mag das total!“

Hermann wollte einwenden, dass ja dann die Japaner immer verlören und ob das nicht so eine Art Rassismus sei, den sie da mit Cheyenne-Pascal spielerisch einübte, aber in diesem Moment kam Otto angerannt. Heiß vom Spielen, mit roten Backen und atemlos haspelte er:

„Wir haben ein total neues Spiel! Supercool! Ich brauch Schokolade!“

Hermann registrierte, wie die junge Frau ihn voller Verachtung musterte, als er mit schlechtem Gewissen einen Riegel von der Tafel abbrach, die er mitgenommen hatte. Ostentativ holte sie eine Karotte und zwei Apfelschnitze aus ihrer Tasche und sah sich nach ihrem Sohn um.

„Wo ist dein Schwert?“, fragte Hermann beiläufig und nicht allzu laut. Die Verachtung der jungen Frau wurde noch spürbarer, aber das war ihm egal. Schwerter waren teuer. Otto sah auf die Schokolade und streckte die andere Hand aus:

„Das hat Cheyenne. Ich brauch auch noch Schokolade für ihn. Das ist mein neuer Freund.“

Hermann konnte die Augen der jungen Frau nicht sehen, aber er hörte deutlich, wie Karotte und Apfelschnitze herunterfielen, als er genüsslich fragte:

„Ach ja? Und was spielt ihr?“

Otto war schon wieder auf dem Weg zur Rutsche, aber über die Schulter schrie er:

„Greenpeace! Wir beschützen die Wale und töten Japaner. So cool!“

Hermann sagte gar nichts, aber als er sein Buch hochnahm, sah er, wie Cheyenne-Pascal auf dem Rutschenturm stand, „Ahoi“ brüllte und Ottos Schwert wie eine Harpune gegen die angreifenden Japaner schwang, die unter großem Jubel versuchten, die Rutsche zu entern.

Den Rest des Nachmittags konnte er ungestört die „Feuchtgebiete“ lesen. Die Bank hatte er auch ganz allein für sich.

 

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