Stein setzt auf Musik statt Pillen

5.8.2017, 09:00 Uhr
Stein setzt auf Musik statt Pillen

© Foto: Patricia Blind

Was da wohl auf einen zukommt? Rund zwei Dutzend Heimbewohner und Angehörige sitzen an hübsch gedeckten Tischchen und lassen sich den leckeren Kuchen schmecken. Gespannt richten sie den Blick nach vorne – dort ergreift Ergotherapeutin Ebru Kabak nämlich gerade das Mikrofon. "Willkommen beim ersten Tanzcafé – ich hoffe, Sie tanzen auch alle!"

Obwohl die Senioren lediglich mit einem skeptischen Lachen antworten, wippen einige mit den Köpfen, sobald die ersten Takte ertönen. Zunächst noch zurückhaltend, dann zunehmend gelöster lassen sich die Heimbewohner von den Walzer-, Rock-’n’-Roll- und Pop-Einlagen des Gesangsduos "Regenbogen" mitreißen.

"Erst sitzen sie scheu in Gruppen zusammen. Doch kaum, dass ‚Alle Vögel sind schon da‘ ertönt, machen alle mit. Bei der Musik blühen sie auf", erzählt Ebru Kabak. Gerne nutzt sie beliebte Hits, um ihre Patienten bei Gymnastik, Sitztanz und kreativem Gestalten spielerisch zu aktivieren.

Susanne Mathias, Musikgeragogin des Hauses, deren Fach es ist, sich mit der Beziehung des alten Menschen zur Musik zu beschäftigen, weiß, dass Lieder nicht nur Spaß machen, sondern auch heilen. "Bei Musik und Tanz kommen ganz neue Fähigkeiten zum Vorschein." Unter dem Motto "Musik statt Pillen" kann das Musizieren bei Depression, Hypertonie oder gar Parkinson helfen.

Unabhängig von geistiger und körperlicher Behinderung singen Bewohner des Domizils im heimeigenen Chor mit, spielen Rhythmusinstrumente und lassen sich von den leidenschaftlichen Melodien mitreißen. "Da heißt es schon mal: Hau den Sauerstoff weg, den brauch ich jetzt nicht!", erzählt Mathias lachend.

Lieder bleiben im Gedächtnis

Besonders Demenzkranke animiert sie zum Musizieren, denn Musik und Tanz können das Demenzrisiko um ganze 76 Prozent reduzieren. "Musik hat eben eine Schlüsselfunktion", erklärt Mathias. "Wenn die Worte fehlen, dann kann ich mich mit Musik ausdrücken. Dann kann ich wieder was." Demente müssen sich fast stündlich auf neue Situationen einlassen – die Musik, so Mathias, sei aber eine Konstante, die die Patienten ihr ganzes Leben lang begleitet. "Die emotionsgeladenen Lieder, zu denen man mit der ersten großen Liebe getanzt hat, bleiben im Gedächtnis."

Auch Heimbewohnerin Renate Krusch blickt nostalgisch drein, während sie "Immer wieder sonntags" lauscht. Bei den Volksliedern kommen ihr sonnige Kindheitserinnerungen hoch. "Meine Mutter hat sehr gut gesungen, ich habe ihr damals immer gerne zugehört." Langsam lockert sich die Stimmung im Tanzcafé. Demenzkranke, die sonst keinen Laut von sich geben, murmeln Liedzeilen mit, Rollstuhlfahrer schunkeln rhythmisch hin und her, auch eher zurückhaltende Heimbewohner nicken sich lächelnd zu und kommen ins Gespräch.

Spätestens als die Alleinunterhalter "Liebeskummer lohnt sich nicht" anstimmen, füllt sich das Parkett. Unter den Tänzern ist auch die 91-jährige Erika Gary, die sich trotz ihres schlechten Gehörs von der launigen Atmosphäre mitreißen lässt. Oder Heimbewohner Rudi Schendel, der mit Kabak das Tanzbein schwingt. Für den 92-Jährigen bietet das Tanzcafé "eine willkommene Abwechslung zum Alltag". Ob im Kreis, paarweise oder Polonaise getanzt wird, ob geklatscht oder geträllert wird – an den rosigen Wangen und den leuchtenden Augen der Gäste ist schnell abzulesen, dass sie im Tanzcafé Alter und Krankheit hinter sich lassen können.

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