Teuflisch gute Einfälle

27.5.2017, 17:25 Uhr
Teuflisch gute Einfälle

© Foto: David Ruiz

Vor zwei Jahren begeisterte das spanische Kulunka Teatro im Stadttheater bereits mit mit "André & Dorine", der einfühlsamen Geschichte einer dementen Frau. In diesem Jahr sind die ausdrucksstarken Masken von Garbine Insausti, einem der drei Darsteller des Ensembles, wieder zurück, und wieder geht es um das Thema des Alterns.

"Solitudes" ist intensives, unter die Haut gehendes Maskentheater mit drei Darstellern, die in viele verschiedene Rollen schlüpfen und die Dimensionen der Einsamkeit ausloten. Denn es ist nicht nur der alte Mann, der nach dem Tod seiner Frau trotz der Bemühungen von Sohn und Enkelin immer mehr vereinsamt: Das Stück macht ohne ein einziges Wort die soziale Kälte einer Gesellschaft spürbar, in der kein Raum ist für Verlierer, für die Langsamen und Schwachen oder für echte Empathie, die über möglichst effektive Hilfe hinausgeht.

Das klingt nach schwerer Kost und ist es auch; aber ein Zuhörer vor der Tür des Theatersaals wäre wohl angesichts des vielen Gelächters zu dem Eindruck gelangt, dass eine Komödie gegeben wird. "Solitudes" bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Tragik und Komik, macht auch vor Slapstick nicht Halt und lässt beides immer wieder abrupt ineinander übergehen.

Auf der Promenade vor dem Haus des alten Mannes stakst eine naive Prostituierte herum, die weder mit ihren hohen Absätzen noch mit ihrem neuen Job Erfolg hat und ihren einzigen möglichen Freier versehentlich mit einem vollen Hundekotbeutel bewirft. Als der Alte sie von der Straße aufsammelt in der Hoffnung, endlich jemanden zum Kartenspielen zu finden, kommt es zu einer wundervoll witzigen Szene voller Missverständnisse. Durch das unerwartete Auftauchen des Sohnes, der das Sexspielzeug auf dem Tisch ziemlich eindeutig findet, steigert sich die Komik noch — um dann unvermittelt in Tragik umzuschlagen.

Der alte Mann zieht sich völlig zurück, und als Sohn und Enkelin zuletzt zurückkehren, ist es zu spät: Selbst jetzt gelingt es ihnen nicht, die eigentlichen Bedürfnisse des Vereinsamten zu verstehen. Am Ende stehen der Tod und die Erkenntnis, dass es nicht reicht, für Essen und Trinken zu sorgen oder die Wohnung zu putzen, um gegen die Trauer und Einsamkeit anzukämpfen. Gab es in "André & Dorine" bei aller Tragik einen versöhnlichen Schluss, bleibt hier kein Hoffnungsschimmer. Nur vereinzelt gelingt es den Figuren, auszubrechen aus ihrer Vereinzelung und ihrem Kreisen um sich selbst, und dann entstehen rührende Momente der Begegnung.

Tragik, Komik, perfektes Timing, atmosphärisch eingesetzte Musik und die bezaubernden Masken sorgen für einen Theaterabend, der bleibenden Eindruck hinterlässt; José Dault, Garbine Insausti und Edu Cárcamo nehmen für das gesamte Ensemble den wohlverdienten Applaus entgegen.

 

Teuflisch gute Einfälle

© Foto: Lutz Edelhoff

Es klingt, gluckst und wispert. In der Mitte des Raumes schwebt eine Scheibe, bläulich beleuchtet. Dann wird es finster. Und gleich wieder hell: Spot auf den mürrischen Alten, der zwar sieben Söhne hat, sich aber sehnlichst noch ein Töchterchen wünscht. Als ihm endlich eines geboren wird, geht etwas gründlich schief. Der Alte flucht — und die Jungs flattern als Raben davon. Richten muss es schließlich das Mädchen.

Soweit in aller Knappheit die Brüder-Grimmsche-Vorlage, an die sich die vier Schauspieler vom Erfurter Theater Waidspeicher auch weitgehend halten – zur Sicherheit kann man hinterher nochmal im dicken Märchenbuch zu Hause nachlesen. Wie aber die kleine Truppe um ihre Drehbühne agiert, die Figuren aus Holz und Pappmaché im Scheinwerferlicht zum Leben erweckt, ist großartig.

Nicht zu abstrakt, um kleine Zuschauer im Kulturforum nicht zu verwirren, doch überraschend genug, dass sich langsam eine Tür im Kopf öffnet, hin zu einer Welt, die uns schon fast verloren schien, fantastisch und voller Zauber.

Die zwei Männer und Frauen zwitschern, krächzen, kichern und schluchzen; sie lassen behände die Raben flattern, das Mädchen übers Gebirge kraxeln – dazu braucht es durchaus auch mal vier zupackende Hände. Viele Federn bilden rasch einen Wald, dann plötzlich rauscht das Meer. Ach so, nur eine Folie? Nein, das kann nicht sein, wir sind doch mittendrin im Abenteuer.

Fiese Sonne

Vor der fiesen Riesensonne und dem eiskalten Mond dürfen sich dann auch die Kinder ein bisschen erschrecken. Ja, Märchen sind zuweilen grausam. Doch am Ende gehen sie immer gut aus. Und so springt schließlich auch das Schwesterlein mit seinen sieben Brüdern davon.

Nicht mal eine Stunde ist vorüber, doch die Gedanken waren weit, weit weg, hatten sich irgendwo verfangen zwischen Holzpüppchen, großen Rabenflügeln und kleinen Aufziehwichteln. Was für ein Theater!

 

Teuflisch gute Einfälle

© Foto: Lupi Spuma

Goethe macht’s mit Vorspiel, Nikolaus Habjan, der 29-jährige Theatersenkrechtstarter aus Österreich, lässt die Chose stattdessen gleich im Himmel starten. Zwei fette Putten treten zur hauseigenen Stuck-Engelschar in Konkurrenz, tirilieren rum und setzen gleich zu Beginn ein deutliches Zeichen: Hier darf auch gelacht werden.

Wie jetzt? "Faust", das Nationalheiligtum deutscher Dichtung, als Einsteigerversion? Gekürzt, augenfällig gemacht für die Generation Youtube? Ja, das funktioniert, nicht zuletzt, weil Habjan verstanden hat, was dieses gewaltige Tragödien-Spektakel im Innersten zusammenhält. Seine gefeierte Arbeit für Next Liberty, das Kinder- und Jugendtheater in Graz, umarmt die Sehgewohnheiten unserer Zeit, enttarnt Lächerliches und nimmt zugleich die Tragödie verdammt ernst.

Aus dieser Haltung heraus glückt eine bemerkenswerte Balance zwischen hintergründigem Witz und großer Ernsthaftigkeit. Ein Zuschnitt, der in der Figur des Mephisto gipfelt. Bei Habjan wechselt er die Körper, ist Puppe und steckt zugleich in Manuela Linshalm, die ihm – ganz großartig – Stimme gibt und manchmal eben auch ihre Gestalt. Ein teuflisch guter Einfall, der dem dienstbaren Geist ein weites Spektrum eröffnet und ihn im Handumdrehen vom grotesken Pappmaché-Dämon zum wahrhaft fürchterlichen Zerstörer werden lässt.

Alles, was nicht so recht aus Fleisch und Blut ist, sei es nun Gott, Hexe oder Irrlicht, wird bei Habjan zur Puppe. Der junge Österreicher mit dem Multi-Talent hat die wendigen Kreaturen mit der großen Klappe entworfen und gebaut. Ihr Einsatz führt nicht bloß zurück zum Ursprung des Faust-Stoffes, der einst auf Jahrmärkten in Marionettenbühnen zum Besten gegeben wurde, sondern schenkt den Gestalten ein ganz eigenes, geheimnisvolles Leben. Anders als die Schauspieler, sind die Figuren keine Darsteller. Sie sind, was sie scheinen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Das ist ein Konzept, das hervorragend zu Habjans umfassender Theater-Idee passt. Für ihn ist alles Schauplatz. Er bespielt das Parkett wie die Bühne, auf die er eine zweite setzt. Möglich macht das Jakob Brossmanns Ausstattung, die in einem prächtigen Barock-Aufbau gipfelt. Klaus Huhle ist ausgerechnet in dieser historischen Üppigkeit ein auffallend junger Faust. Dank Zaubertrank buhlt er pubertär, ist glaubwürdig und nah gerade dann, wenn er begehrt.

Nach gut zwei Stunden ist die Tragödie in spektakulären Bildern erzählt. Die Kürzungen haben den Kern des ungeheuren Stoffs nicht berührt, stattdessen dringt die Botschaft verlässlich in Herz und Hirn. Der junge Mann aus Österreich bleibt dem Großmeister aus Weimar dabei stets eng verbunden. Nur einmal schert Habjan aus. Dann aber mit Nachhall. Sein Gretchen (Alice Peterhans) hat das letzte Wort. Keine mystische "Stimme von oben" erteilt der Kindsmörderin den erlösenden Bescheid "Ist gerettet", sondern die junge Frau selbst spricht sich frei. Und geht ab. Ganz groß.

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