Virenalarm

5.3.2013, 10:04 Uhr
Virenalarm

© Scherer

Wir sitzen auf der Couch und stippen unsere Zungen in Wassergläser. Wir versuchen es mit Eiswürfeln und kalten Tüchern und fühlen uns wie Chamäleons, deren wichtigstes Körperteil angesengt ist.

Selbstverständlich waren wir schon beim Arzt: „Kein Sorge, das sind Aphten“, beruhigt uns der gut gelaunte Allgemeinmediziner, während wir den Wasserspender der Praxis leertrinken, „so kleine Bläschen im Mund. Meist sind sie einfach da. Bei Ihnen hat sich die brennende Variante eingenistet. Ich nenne sie ‚Feueraphten‘, weil sie so unangenehm weh tun. Kommen manchmal bei starken Erkältungskrankheiten vor. Können Sie gar nix machen, nur abwarten. Seit wann, sagten Sie, haben Sie Ihr Kind in der Krippe?“

Seit einem halben Jahr muss es einen Newsletter in mikrobiologischer Größe geben, der allen Viren und Bakterien einflüstert: „Geht dorthin, und zwar schnell! Die sind beide noch nicht immun!“ Dieselben Infos muss auch der Varizella-Zoster-Virus erhalten haben. Neulich machte ich eine Krankheit durch, die normalerweise bei Ein- bis Zweijährigen diagnostiziert wird: Windpocken.

Auch damals beruhigte mich unser Arzt, der mir aus Sicherheitsgründen nur telefonisch Auskunft gab. „Ich glaube nicht, dass Sie daran erkrankt sind“, tirilierte er in den Hörer. „Die 77er-Jahrgänge hatten das alle schon, aber gehen Sie mal zum Labor: zur Vorsorge!“

Mein Blut wurde eingeschickt, filtriert, durchgeschüttelt und ausgewertet, während ich die nächsten 72 Stunden lang mit 40 Grad Fieber durch unsere Wohnung schwebte. Ich phantasierte von sich unendlich erweiternden Räumen und nervenaufreibenden Verfolgungsjagden. An Lesen oder Fernsehschauen war nicht zu denken. Den ganzen Tag lag ich im Bett, die Augen zur Decke gewandt. Nachts konnte ich nicht schlafen. Einmal beobachtete ich zwei Stunden lang einen Gliederfüßler, der sich von der linken unteren Ecke der Wand an die rechte obere emporarbeitete. Flugzeuge, die mein Himmelsquadrat durchkreuzten, waren Armlehnenkraller für mich. – Das ist das Bescheuerte an der Lebenszeit: Langsam vergeht sie nur, wenn man leidet.

Nach einer Woche kam der Befund vom Labor. „Sehr geehrter Herr Kröner, Sie sind möglicherweise an Windpocken erkrankt.“ Mein Körper war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Galaxie, auf der findige Astrologen die Zukunft weissagten. Da ich mich nicht mehr rasieren konnte, war eine seltsame Rübezahlisierung eingetreten. Ich sah nicht nur beschissen aus: Neben jedem Quadratzentimeter Haut juckte jetzt auch noch der Bart. Immerhin war ich stolz darauf, ein Teil des besten Gesundheitssystems dieser Welt zu sein.

Doch nicht nur ich litt und leide. Auch meine Frau macht Spezielles mit, seit unser Sohn sein Immunsystem aufbaut. Einmal erkrankte sie während der Rückreise von ihren Eltern dermaßen stark an Magenbeschwerden, dass sie an einer Raststätte anhalten musste und auf dem Handy anrief. Als ich den Tankstellenshop betrat, lag sie niedergestreckt auf einer Bank neben einer Horde Fernfahrer, die eine Thüringer aßen und die Bild durchblätterten; eine Putzfrau wischte um sie herum. Unser Kind saß neben ihr und sang. Es hatte sich während der Autofahrt übergeben und zu konsequentem Optimismus entschlossen.

Am selben Abend übergab ich mich in einen Putzeimer. Siebenmal. Mein auseinander gerissener Kiefer fühlte sich an, als hätte ich eine Eishockeyrunde überlebt. Durchs Babyphon, das für den Fall meines Dahinscheidens in unserem Schlafzimmer stand, machte ich Geräusche wie ein Löwe, sobald ich mich über den Eimer beugte.

Während ich heute ein mit Eiswasser getränktes Handtuch für unsere Zungenlappen zurechtschneide, muss ich an den Virenbeschaffer denken. Nicht nur diese Magen-Darm-Grippe, auch seine Sternenkarte hatte er gelassen weggesteckt. Er fand seine Pusteln spannend, ohne übermäßig daran herumzukratzen. Eine einzige Narbe ist ihm geblieben. Keine Erkältung, kein Fieberdelirium waren Dramen gewesen. Auch seine Feueraphten haben ihn nicht sonderlich heiß gemacht.

Kann es sein, überlege ich, während die brennenden Gürteltiere in uns zu Höchstform auflaufen und einem das Gefühl vermitteln, als hätte man ein Feuerquallenfilet verspeist – ist es möglich, dass die Kleinen nicht so wehleidig sind wie wir? Wir scheuen uns vor einer klaren Antwort und tragen den Schmerz – wie Erwachsene.



 

Keine Kommentare