Volkskrankheit: Wenn der Schmerz nicht aufhört

5.6.2018, 08:40 Uhr
Volkskrankheit: Wenn der Schmerz nicht aufhört

Dürfen Menschen mit chronischen Schmerzen darauf hoffen, den Schmerz eines Tages wieder loszuwerden?

Crahé: Jeder kann zumindest auf eine deutliche Linderung hoffen, wenn er etwas dafür tut. Schmerzmediziner können zusammen mit den Betroffenen eine Menge bewegen – die Patienten brauchen allerdings die Bereitschaft, sich zu verändern.

 

Das klingt schwieriger, als es mit einem neuen Medikament zu versuchen.

Crahé: Das stimmt, der Mensch ist ja ein Gewohnheitstier. Und viele, die zu uns kommen, sind der Typ ,Durchhalter‘: Sie sind es gewohnt, die Zähne zusammenzubeißen und irgendwie weiter zu funktionieren. Gerade bei älteren Menschen ist der Leistungsanspruch sehr hoch. Aber es lohnt sich, sich auf Veränderungen einzulassen.

 

Was muss sich denn ändern?

Crahé: Der Alltag und der Umgang mit den Schmerzen. Oft stecken die Leute in einem Teufelskreis. Wer ständig Schmerzen erlebt, nachts nicht schlafen kann, wird mit der Zeit rausgerissen aus seinem Leben. Man ist gereizt oder ängstlich, rutscht leichter in eine Depressivität. Wegen der Schmerzen scheut man Bewegung, man hat vielleicht auch nicht mehr so viel Freude daran, Freunde zu treffen. Womöglich kommen finanzielle Sorgen hinzu, weil man seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Viele Betroffene ziehen sich also zurück – und das wirkt als Verstärker für die Schmerzen.

Hier muss man also ansetzen?

Crahé: Genau. Wir können die Schmerzen nicht wegzaubern, und danach geht alles weiter wie bisher. Die Patienten müssen die Rahmenbedingungen ändern, ihr Privatleben pflegen, soziale Kontakte. Das ist oft der Einstieg, dass sie aus den Schmerzen rauskommen.

 

Das lernen sie in der Tagesklinik?

Crahé: Ja, das ist das Ziel. Wir machen nicht nur ein paar Übungen mit den Patienten und schauen uns an, welche Tabletten sie nehmen. Wichtig ist uns, die Patienten im Ganzen, also Körper und Seele, zu betrachten und ihnen zu zeigen, was sie selbst tun können, um besser zurechtzukommen. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie lernen, wie sie ihre Aufgaben besser bewältigen, welche Bewegung ihnen gut tut und dass sie sich Zeit für Entspannung nehmen müssen. Durch den Schmerz ist die Muskulatur ständig an- und verspannt, man muss täglich für Entspannung sorgen – und zwar nicht erst am Abend, sonst nehmen die Schmerzen über den Tag zu. Für manche Patienten, die immer allen helfen, bedeutet die Therapie auch zu lernen, mal Nein zu sagen. Es geht darum, nicht immer mit der Erkrankung zu hadern, sie anzunehmen und wieder mehr darauf zu achten, was positiv im Leben ist. Der Schmerz hat das oft verdrängt.

 

Welche Rolle spielen Medikamente?

Crahé: Chronische Schmerzen sind anders als akute, es sind ganz andere Gehirnzentren involviert – ähnlich wie bei massivem Stress. Medikamente können den chronischen Schmerz um etwa 30 Prozent lindern. Die übrigen 70 Prozent benötigen daher nichtmedikamentöse Verfahren. Seit etwa 20 Jahren setzt die Schmerzmedizin daher auf ganzheitliche Konzepte und nicht darauf, die Menschen nur mit Medikamenten zu behandeln.

 

Wann sollte man einen Schmerzmediziner aufsuchen?

Crahé: Wenn man nach einem halben Jahr keinen Schritt vorangekommen ist, man zermürbt ist und der Alltag schon eingeschränkt ist, rate ich dringend dazu, sich an einen Schmerzexperten zu wenden. Nicht jeder braucht natürlich eine Therapie in der Tagesklinik. Aber es ist gut, sich rechtzeitig Hilfe zu holen. Es ist schwerer, rauszukommen, wenn man schon jahrelang Schmerzen hat.

 

Wie viele Leidensjahre haben Ihre Patienten im Schnitt hinter sich?

Crahé: Die meisten weit über ein Jahr, manche plagen sich schon seit 10 oder 20 Jahren. Auffällig ist übrigens, dass Menschen mit Ängsten leichter chronische Schmerzen entwickeln – und umgekehrt. Wir haben auch viele traumatisierte Patienten, die in der Kindheit Schlimmes erlebt haben. Chronische Schmerzen sind oft Ausdruck einer Stressverarbeitungsstörung. Die Abnutzung der Knochen und Gelenke ist dann nur der Auslöser.

 

Wie sieht die Behandlung in der Tagesklinik aus? Und wie lange wartet man auf einen Platz?

Crahé: Wir arbeiten mit kleinen Gruppen mit je acht Patienten. Normalerweise bekommt man innerhalb von zwei, drei Monaten einen Platz. Berufstätige sind über fünf Wochen hinweg montags bis freitags von morgens bis etwa 15 Uhr bei uns und in dieser Zeit krankgeschrieben. Für Senioren haben wir eigene Gruppen, sie kommen zweimal pro Woche über zehn Wochen hinweg. Die Patienten lernen bei uns verschiedene Bewegungsmöglichkeiten und Entspannungstechniken kennen, zum Beispiel auch Tai Chi, Chi Gong oder Yoga. Psychologen vermitteln Schmerzbewältigungsstrategien. Hilfreich ist oft auch der Austausch in der Gruppe. Viele fühlen sich erstmals verstanden, manche Gruppen bleiben jahrelang in Kontakt.

 

Schaffen die Patienten es, nach den fünf Wochen allein weiterzumachen?

Crahé: Wir holen sie nach ein paar Monaten zu einer Auffrischung zurück. Entscheidend ist wirklich, dass man weitermacht. Weil es eine Lebensaufgabe ist.

Tageskliniken gibt es auch in Nürnberg und Erlangen. Beim Aktionstag können Gäste heute von 9.30 bis etwa 15 Uhr einen Blick hinter die Kulissen der Schmerztherapeutischen Tagesklinik am Fürther Klinikum werfen und beispielsweise auch eine Bewegungsstunde mitmachen. Stündlich werden Vorträge angeboten.

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