W wie Wild

1.9.2012, 13:00 Uhr
W wie Wild

© Hans-Joachim Winckler

Herr Dr. Wild, wo im Kopf sitzt denn das Gedächtnis?

Wild: Da muss ich ein bisschen ausholen: das Gedächtnis als Festplatte orten wir im Ammonshorn, einer paarigen Struktur des Zwischenhirns. Aber es sind auch Teile des Stirnhirns und der Balkenregion einbezogen, Letztere liegt tief unter dem Scheitel und verbindet die beiden Hirnhälften. All diese Regionen sind durch eine Vielzahl von Nervenfasern vernetzt.

Und das Namensgedächtnis?

Wild: Es gibt keinen eigenen Speicherort für das Namensgedächtnis. Die Namen werden wie andere Begriffe in einem Wortgedächtnis gespeichert. Für die Erkennung von Gesichtern dagegen gibt es eine spezielle Hirnregion. Bei einigen neurologischen Erkrankungen können die Betroffenen Gesichter nicht erkennen, obwohl ihre Augen gut funktionieren. Sie können jedoch nicht zuordnen, was sie sehen — und dann auch die zugehörigen Namen nicht finden.

Liegt es daran, dass sich manche Menschen Gesichter gut, aber Namen partout nicht merken können?

Wild: Nein. Die Ursache für solche Unterschiede ist eher, dass es verschiedene Typen gibt. Manche Menschen speichern besser optische Reize, andere reagieren eher auf akustische. Man kann übrigens seine Merkfähigkeit verbessern, indem man viele Sinneseindrücke verknüpft: Sehen, hören oder auch berühren.

Heißt das, wenn man jemand schon mal in den Arm genommen hat, kann man sich seinen Namen besser merken?

Wild: Die affektive Tönung und der emotionale Zugang spielen eine große Rolle. Wenn ich jemanden liebe, vergesse ich seinen Namen sicher nicht.

Aber Namen sind nur ein kleiner Teil. Was muss unser Gedächtnis alles leisten?

Wild: Es schafft Ordnung in unserer Welt. Ohne Gedächtnis würden wir nicht mehr nach Hause finden, könnten keine Gefahr erkennen und müssten alles immer wieder neu erfinden. Alles Wissen wäre verloren. Das können wir bei Erkrankungen wie den Demenzen beobachten. Als Neurologen unterscheiden wir das deklarative Gedächtnis, das unser Wissen über die Welt und auch Namen speichert, und das prozedurale Gedächtnis. Hier sind Routinen wie Gehen, Radfahren oder Schwimmen abgespeichert und abrufbar, ohne ins Bewusstsein zu treten. Das hat Vorteile: Die Tätigkeiten nehmen nicht so viel Rechenzeit in Anspruch, wir können uns auf Dinge konzentrieren, die für uns neu oder auch wichtiger sind.

Zum Beispiel?

Wild: Die sechs, sieben Ziffern einer Telefonnummer beispielsweise, die das Kurzzeitgedächtnis für wenige Sekunden speichert. Wandert eine Nummer ins Arbeitsgedächtnis, wird sie dort bearbeitet und kann dann auch in umgekehrter Reihenfolge abgerufen werden. Ab einer Dauer von einigen Minuten wird das Langzeitgedächtnis aktiv. Was mehr als fünf Jahre gespeichert war, geht kaum noch verloren.

Wäre da nicht die Vergesslichkeit. Klagen Ihre Patienten darüber?

Wild: Sie berichten sogar relativ häufig, dass sie sich gerade Namen nicht mehr merken können. Das kann einfach Schusseligkeit sein, es hängt auch mit Konzentration zusammen. Wenn Menschen durch interessantere Dinge abgelenkt sind oder unter großem Druck stehen, fallen ihnen Namen nicht so leicht wieder ein.

Dann ist alles nicht so schlimm?

Wild: Das Phänomen kann eben auch das erste Anzeichen einer Demenz sein und damit oft von Alzheimer. Dann benutze ich zur Abklärung gerne einen Riechtest. Interessanterweise befinden sich die Gedächtnisstrukturen in enger Nähe des Riechhirns. Das Riechen ist übrigens die einzige Sinnesqualität, die nicht über den Thalamus läuft und deshalb nicht vom Bewusstsein kontrolliert wird. Wenn die Fähigkeit zu riechen nachlässt, kann das ein Hinweis auf eine degenerative Hirnerkrankung sein.

Wenn sich’s nicht um eine Krankheit handelt: Kann man etwas für ein besseres Gedächtnis tun?

Wild: Man muss üben: wiederholen, wiederholen und zu den Namen assoziieren.

Gedächtnistrainer raten, sich Eselsbrücken zu bauen. Auffällige Gesichtszüge wie eine große Nase, die schrille Brille oder eine besondere Sprechweise sollen mit dem Namen verknüpft werden. Aber dann muss man sich ja noch mehr merken?

Wild: Ja, aber das Wissen ist über mehrere Kanäle eingeflossen und damit an unterschiedlichen Stellen abgesichert. Wenn ich mir beispielsweise eine Geschichte zu verschiedenen Namen ausdenke, dabei in der Fantasie an einer Häuserzeile entlanggehe und mir vorstelle, dort wohnt X und daneben Y dann sind diese Techniken durchaus erfolgreich. Ob das aber bei Müller, Meier, Schmidt funktioniert...? Man könnte auch über den Beruf eine Brücke schlagen. Aber wer weiß noch, dass der Meier einmal ein Verwaltungsbeamter war?

Als Arzt haben Sie sicherlich mit vielen Patienten zu tun. Können Sie sich denn all deren Namen überhaupt merken?

Wild: Ich habe leider kein wirklich gutes Namensgedächtnis. Aber ich habe zum Glück Mitarbeiterinnen, die besitzen ein exzellentes!

Der Computer hilft nicht?

Wild: Wenn man weiß, wo man nachschauen muss! Ich kann mir Gesichter merken oder Bewegungsabläufe, aber Bilder speichern die Praxisprogramme in der Regel noch nicht. Wenn ich einen Namen suche, kommen die Mitarbeiterinnen meist schnell darauf, sobald ich aus der Krankengeschichte erzähle, von Eigenarten oder Untersuchungsergebnissen. Denn das ist ja das Eigentliche, was mich als Arzt bei einem Patienten beschäftigt — der Name als solcher spielt nicht die entscheidende Rolle. 

 

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