Wer zum Teufel ist Parsifal?

31.7.2012, 11:16 Uhr
Wer zum Teufel ist Parsifal?

© Winckler

Auf dem Weg nach Bayreuth hielt ich in Gesees an. Hoch oben auf dem Berg liegt Sankt Marien, eine kleine gotische Kirche mit wunderbaren Szenen aus dem Alten Testament, drastisch bemalten Holzemporen. Sex and Crime, Verführung und Inzest, Brudermord: Diese Bilder hatten mich schon als Kind fasziniert und ich wollte sie wieder sehen.

Ich hielt also an, unten im Dorf an einem stillen Sonntagmorgen. Festspielzeit. Wagnerzeit. Christoph Schlingensiefs angeblicher Skandal hatte Bayreuth, hatte die Welt erregt – und war doch kein Skandal. Skandal oder nicht Skandal, das ist hier die Frage, der Erregungsgrad in Bayreuth ist immer besonders hoch. Ist der Tempel schon verunreinigt oder machte man aus dem Meister eine verwesende Mumie?

Der Sänger Erik Wottrich zumal als Parsifal, als Titelheld fühlte sich skandalisiert. „Denn als er nach dem Singen schlief/bedrängt ihn noch der Schlingensief“. Alpträume. Der wüste Atem und die wilde, knabenhafte Frisur des Regisseurs. Afrika auf der Bühne des Festspielhauses. Tote Hasen. Verwesungsgeschmack. Dein Kulturkreis ist nicht mein Kulturkreis.

Deine Ängste sind nicht unsre Ängste, schrien aufgebracht die Fans. Ungeschehen machen! Alle Bilder ungeschehen machen. Die Mitleidsfluten sollen uns tragen, nicht ertränken. Das Rauschen in unseren Köpfen, die Brandung der Erinnerung, der Schmerz, der starke, nicht endende Schmerz der Schuld, wenn wir die Augen nicht schließen, all das muss verschwinden.

Die Gedanken sind frei, sagt man, aber so frei sollen sie auch nicht sein. Pfui Teufel. Kunst sei ein Wiegenlied oder ein Protestsong, zeitgemäß und sehr geschmackvoll. Parsifal aber steht mit zerbrochenem Schwert vor mir, ein trotziger Knabe, ein gescholtenes Kind. Die Ritter mit der roten und der schwarzen Rüstung, die Hirschkühe und die Jungfrauen, Einhörner und Wildschweine und schnell aufflatternde Schwäne, alles wurde vernichtet, alles sank in den Staub vor ihm, vor Parsifal, vor uns. Und das soll alles gewesen sein? Der Rest ist schale Schuld. Das alles schwirrte in meinem Schädel, die freien Gedanken, eher flatternden Kolibris gleich. Das pocht. Migräne.

Ich kam an einem dunklen Weiher vorbei, da stand ein junges Mädchen in festlichem Kleid. Ich fragte nach dem Weg zur Kirche, sie lächelte artig, es fehlte nur noch, dass sie geknickst hätte. Sie wies mir den Weg.

So viel reine Unschuld, so viel herzliche Freundlichkeit, mein Herz erblühte. War das da oben wohl die Gralsburg und nicht Sankt Marien?

Ein wunderbarer Weg auf abgetretenen Steinplatten führte nach oben. Wie viele Generationen waren diesen Weg wohl hinaufgestiegen? Nussbäume, Holunder, auf einem Stück Trockenwiese unter der Kirche saßen zwei seltene Schwalbenschwänze und wärmten sich in der Sonne.

Ich überschritt eine baufällige, steinerne Rundbrücke und löschte die Zeit. Kundri mit den Eberzähnen: Ihre Worte waren Brücken übers Glück für das Herzeleid. Sie löschten alle Heiterkeit. Nicht für mich. Ich wurde heiter.

Dieses Kirchlein, das so schlicht ist, es verführt mich mit einfacher Bildsprache, so wie Eva den Adam verführt hat. Zu Adams Füßen kauern zwei Hasen am linken Bildrand, Symbole der Fruchtbarkeit. Der Wechsel zwischen Gut und Böse, schwarz und weiß, Vertrauen und Misstrauen, Himmel und Hölle wie im Elstergefieder. Das gehört zum Leben. Der Mutige hat daran teil. Man wird Haken schlagen wie ein aufgescheuchter Hase. Das Hasenherz, das aufgeregt klopfende Herz, es hat viel Mut, es hält stand, es lässt uns nahe herankommen bis zum Gehtnichtmehr.

Auf einem Wandertag mit einer lärmenden Schülerschar kamen wir so nahe heran. „Oh, der ist tot,“ schrien die Ersten. Wir sahen das räudige Fell und wir hielten den Hasen wirklich für tot. Doch da, als sich einer herabbücken wollte, um ihn mitleidig zu streicheln, da raste er los. Ein Powerherz, ein Sprinter, von null auf 180. Du hast keine Chance, aber nütze sie! Und er nützte sie grandios! Viele Hunde sind des Hasen Tod – aber in der Überraschung macht es ihm keiner nach.

Ach, so ein Hase hat dauernd Nahtoderlebnisse, genau so wie Schlingensief, der seine Krebserkrankung, sein Leiden, zum Thema seiner Kunst machte.

Sein Leiden war das Leiden jeder Kreatur. Das Weiß im Auge des Feindes beim Kauern in der Sasse, der stinkende Atem eines Hundes, das laute Hecheln, das noch nicht weglaufen dürfen, das macht meschugge, irre, verrückt.

Schlingensief hat den Kampf gegen seine Krankheit zwar verloren, aber sein Projekt Afrika verfolgte er bis zuletzt. Seine Gedanken, seine Religion der Empathie, wirken weiter. Die Gedanken sind frei, das Operndorf in Burkina Faso entsteht.



 

Keine Kommentare