„Westliche Politiker gelten als Papiertiger“

30.10.2010, 16:30 Uhr
„Westliche Politiker gelten als Papiertiger“

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Herr Vittinghoff, wie bleiben Sie in Fürth darüber auf dem Laufenden, was im fernen China vor sich geht?

Vittinghoff: Die wichtigste Informationsquelle ist das Internet. Alle chinesischen Zeitungen sind online zu lesen. Zudem gibt es dort riesige wissenschaftliche Textsammlungen, mit denen die Chinesen viel Geld verdienen. So zahlt beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft eine beträchtliche Summe für diese Dienstleistung.

Sind diese Nachrichten nicht alle zensiert?

Vittinghoff: So kann man das nicht sagen. Es gibt eher einen vorauseilenden Gehorsam. Man schreibt schon gar nicht etwas, das politisch problematisch sein könnte oder gar den absoluten Machtanspruch der Kommunistischen Partei untergraben würde.

Gibt es in China überhaupt Kritik an den Repressalien, denen Liu Xiaobo und seine Frau Liu Xia ausgesetzt sind?

Vittinghoff: Man muss da zwischen den Zeilen lesen können. So gibt es schon Texte, in denen es heißt: Wir wollen in der Welt eine wichtige Rolle spielen, also müssen wir uns auch international ausrichten. Wer sich für das Thema interessiert, weiß dann schon, was gemeint ist.

Warum reagiert die Führung der KP eigentlich so gereizt, wenn etwa Kanzlerin Angela Merkel den Dalai Lama empfängt oder – wie aktuell – einer ihrer Kritiker im eigenen Land den Friedensnobelpreis erhält?

Vittinghoff: Dabei geht es vor allem um den Gesichtsverlust. Für Chinesen ist es extrem wichtig, den Schein zu wahren. Und sie denken dabei wahrscheinlich weniger an Europa als an Afrika und die Welt. In Afrika wollen sie an den Bodenschätzen partizipieren, Aufträge zum Aufbau der Infrastruktur an Land ziehen und generell ihren Einflussbereich ausdehnen. Wenn sie weltweit als Unrechtsstaat an den Pranger gestellt werden, sehen sie das als Behinderung ihrer Bestrebungen an. Man sollte aber nicht annehmen, dass man die KP dadurch zum Umdenken bewegen könnte.

Warum nicht?

„Westliche Politiker gelten als Papiertiger“

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Vittinghoff: Die Frage der Menschenrechte diskutieren in China nahezu ausschließlich die Intellektuellen in den Städten. Etwa drei Viertel der 1,3 Milliarden Chinesen leben aber auf dem Land, zum Teil in entlegendsten Provinzen. Die interessiert hauptsächlich, wie sie ihre Familie durchbringen. Noch dazu ist die Regierung sehr geschickt und tut alles, um das Nationale hochleben zu lassen. Die allermeisten Chinesen sind sehr stolz auf ihr Land, und zwar so wie es ist. Die Propaganda funktioniert. Im Übrigen überzeugt die KP das Volk auch, indem sie die Angst vor dem Verlust vor Arbeitsplätzen schürt. Das läuft bei uns in Europa ja nicht viel anders.

Kann der Westen also gar keinen Einfluss auf die Verhältnisse in diesem totalitären Staat nehmen?

Vittinghoff: Doch, man müsste nur nicht so viel reden, sondern handeln. Wenn Kanzlerin Merkel in China ein bisschen Menschenrechte einfordert, aber in ihrem Schlepptau etliche Wirtschaftsbosse völlig unabhängig davon Geschäfte machen, dann ärgern sich die Chinesen zwar, halten Merkel oder wen auch immer aber für einen Papiertiger. Stattdessen müsste hinter verschlossenen Türen Tacheles geredet werden. Sprich: Diesen oder jenen Auftrag gibt es nur, wenn ihr die Menschenrechte berücksichtigt. Derartige Drohungen darf man nur aussprechen, wenn man bereit ist, sie in die Tat umzusetzen. Aber das wird nicht passieren, weil der Westen nicht mit einer Stimme spricht.

Haben Sie überhaupt Hoffnung, dass sich in China etwas zum Guten verändert?

Vittinghoff: Das hat es doch längst. Man kann dort im Gegensatz zu der Zeit vor 20 Jahren nahezu unbehelligt reisen, wahrscheinlich unbehelligter als in den USA. Die Spitze der KP besteht längst nicht mehr aus Politikern, die noch den Langen Marsch und die Anfangsjahre der Herrschaft von Mao Zedong mitgemacht haben, sondern zunehmend aus jungen, pragmatischen, häufig im Westen ausgebildeten Technokraten. Diese werden, auch weil in China Religion keine Rolle spielt, mit kühlem Verstand auf Veränderungen reagieren, die es meiner Meinung nach sowieso geben wird.

Was meinen Sie damit?

Vittinghoff: Seit 1986 gilt die Ein-Kind-Politik, nach der jede Familie nur ein Kind haben darf. Inzwischen weiß man, dass das zu einem ähnlichen demographischen Problem führt, wie wir es hier kennen; die Chinesen werden auch immer älter. Ebenfalls sehr bedenklich ist die Qualität von Luft und Wasser und der Natur im Allgemeinen. Außerdem muss der zunehmende Wohlstand so verteilt werden, dass ländliche Regionen nicht noch weiter hinter den Sonderwirtschaftszonen zurückbleiben. Hier sind die Wanderarbeiter ein Riesenproblem. Wenn man deren Schlafplätze deutschen Hunden anbieten würde, stünde am nächsten Tag der Tierschutzbund auf der Matte. Die Machthaber in der KP sind keine Menschenfreunde, aber sie werden beizeiten handeln, um ihre Macht abzusichern.

Eine Revolution der Bürger halten Sie für ausgeschlossen?

Vittinghoff: Die Chinesen fürchten Chaos und Unruhe. Deshalb gab es in der Geschichte dieses Landes Reformen immer nur von oben.