Wir sind’s, die Neuen

20.1.2017, 11:00 Uhr
Wir sind’s, die Neuen

© Foto: Kohler

Vielleicht ist sie zehn, er 14. Neun und 15, auch das wäre möglich. Und woher Riva und ihr Bruder Andrea eigentlich kommen, auch das lässt Autor Nick Wood bewusst offen. Die Namen klingen italienisch, aber Italien ist nun wirklich sicher in einer Welt, in der gerade nicht mehr allzu viel sicher ist. Das Stück, es dauert eine Schulstunde, legt Spuren aus, die Richtung Balkan führen, Weißrussland, man weiß nichts Genaues. Man weiß, dass der Papa tot ist und die Mama viele Sorgen hat.

„Wichtig ist, dass es um Menschen geht, die dort, wo sie geboren wurden, nicht mehr leben können“. Für Regisseur Gerd Beyer ist „Fluchtwege“ kein Kindertheaterstück nach klassischem Strickmuster; von „schwerer Kost“ spricht er, die aber „verdaubar wird“. Und von einem Stoff, der sein muss, jetzt und in dieser Zeit. Da nickt Riva-Darstellerin Josephine Mayer heftig.

Ein ganz anderes, nachgerade tollkühnes Projekt hatte Stadttheaterpädagoge Johannes Beissel fürs neue Klassenzimmerprojekt im Kopf. Doch der Plan, einen afghanischen, in Fürth lebenden Flüchtling, Schauspieler noch dazu, von sich und seiner Odyssee berichten zu lassen, er zerschlug sich. Geld war ein Thema, die nicht ganz freiwillige Abreise des Afghanen ein anderes. „Und dann suchst du und suchst, liest und liest. Vieles wird da gerade auf den Markt geworfen“, sagt Beyer, neun von zehn Werken seien einfach nicht gut genug. „Aber an ,Fluchtwege‘ haben mich die Sprache und die zahlreichen Perspektivwechsel überzeugt.“

Der englische Autor, Lehrer und Journalist Wood landete mit „Warrior Square“, wie „Fluchtwege“ im Original heißt, einen vielfach gespielten Erfolg, nach der Deutschen Erstaufführungen 2002 in Potsdam und nach dem Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin 2003 begann eine lange Reise über hiesige Bühnen.

Riva spielt Josephine Mayer vom Kult-Ensemble, zu Weihnachten noch war sie „Alice im Wunderland“, Kollege David Schirmer ist Andrea. „Für Kindertheater“, sagt die Schauspielerin, „hat es ziemlich viel Tiefgang“ und reichlich emotionale Berg- und Talfahrten. Wie ist das, in einem völlig fremden Land die Koffer abzustellen? Wie ist das, plötzlich vor einer Klasse zu stehen, die so ganz anders spricht als du selbst?

Temporeich und voller Szenenwechsel ist „Fluchtwege“, zugleich schlüpfen die Darsteller, die in der Rückblende erzählen, in verschiedene weitere Rollen, sind Mutter, Vater, Nachbar, Freunde. Und es gibt sie natürlich, die „Echt-scheiße-Momente“, wie Beyer sie nennt, Momente, die auch in Deutschland anno 2017 manches Kind kennt. Es muss nicht gleich eine dramatische Flucht sein, aber das Gefühl, wenn dir deine Eltern sagen, dass etwa ein Umzug ansteht — boah, heftig. Josephine Mayer ging in Aschaffenburg in die erste Grundschulklasse, als sie erfuhr, dass der Weg nach Nürnberg führen würde. Wohin? Ah ja. „Ich werde nie vergessen, wie traurig das für mich war.“

Keim der Erkenntnis

Gleichwohl, betont Regieassistentin und Kostümbildnerin Doris Hanslbauer, gehe das Stück „gut mit den Zuschauern um, es lässt die Kinder nicht ratlos und traurig zurück. Es pflanzt einen behutsamen Keim der Erkenntnis.“ Viertklässler würden sich andere Erinnerungsmomente pflücken als Achtklässler, das sei völlig okay so.

Gerd Beyer, gebürtiger Dresdner, kennen die Fürther Theatergänger als Schauspieler unter anderem in „Der Boss vom Ganzen“ und „Tannöd“, in der vielfach gepriesenen TV-Serie „Weissensee“ war er dabei. Mehrfach inszenierte der 51-Jährige am Gostner Hoftheater, nun erstmals in Diensten des Stadttheaters Fürth. „Man kann im Lauf des Stückes dahin kommen, dass man sich mit den beiden Kindern identifiziert. In der Hinsicht bietet ,Fluchtwege‘ viel.“

Zwei Kinder, die Mutter, ein Asylantrag. Und diese eine Frage: Was wird aus uns?

Schulen können ab der Premiere am Dienstag die Produktion buchen (Tel. 9 74 24 31), sie umfasst eine Doppelstunde. In der zweiten Stunde gibt es ein moderiertes Gespräch mit den Schauspielern, mit Beyer oder dem begleitenden Theaterpädagogen.

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