Wo sind wir daheim?

11.3.2014, 08:56 Uhr
Literarischer Staatsrechtler mit humoristischer Mission: „Freiheit“-Autor Theobald Fuchs.

© Scherer Literarischer Staatsrechtler mit humoristischer Mission: „Freiheit“-Autor Theobald Fuchs.

Ich will keine großen Reden schwingen über Bootsflüchtlinge, Armutszuwanderung oder Asylbewerber. Meine persönliche Meinung steht längst felsenfest, nämlich dass ein so reiches Land wie unseres ein Hafen sein sollte für alle, die da verfolgt und beladen sind, für die armen Tropfe, die verständlicherweise keinen Bock auf Krieg, Not und Krankheit haben. Wahre Gastfreundschaft ehrt den Gastgeber, so dass es für mich keine Alternative gibt zum „Herzlich Willkommen“. Punkt.

In der Praxis stößt man freilich auf tausend Probleme, keine Frage, die sich jedoch erfahrungsgemäß immer lösen lassen. Das Konzept der Staatsangehörigkeit allerdings, auf welchem ja jedwede Art von Reisefreiheitsbeschneidung beruht, halte ich für nicht auch nur annähernd ausgegoren.

Mir sind insgesamt nur zwei verschiedene Konzepte für den leider unvermeidlichen Augenblick bekannt, in dem einem menschlichen Individuum die Mitgliedschaft zu einem bestimmten Staatswesen aufs Auge gedrückt wird. Als notwendige Voraussetzung für Schulbesuch, Steuernummer, Ausweis, Sozialkasse, Wehrdienst usw. — eben alles, was unangenehm und lästig ist.

Es gibt das Ortsgeburtsrecht, das besagt, dass ein Kind dem Land angehört, auf dessen Gebiet es geboren ist. Schon mal nicht schlecht, finde ich. Die USA praktizieren das, und man hört nur selten davon, dass es ernsthaften Ärger gibt. Nur dann etwa, wenn das Kind im Flieger oder im Raumschiff zur Welt kommt. Oder wenn ein Land aufhört zu existieren. Da muss dann eine Ersatzbürgerschaft her, denn sonst wären ja zum Beispiel ein gewisser Teil der heutigen Deutschen immer noch Bürger Roms. Der Rest — zu dem auch die Fürther gehören — trüge immer noch einen germanischen Barbarenausweis bei sich (Ritzbild auf Schäuferle-Knochen).

Die zweite Alternative ist das Abstammungsprinzip, das zwar in Deutschland gilt, aber halt immer noch ein „Grüchle“ hat, wie der Schwabe ausnahmsweise so schön sagt. Ein Grüchle nach Rassismus, ethnischer Diskriminierung und überhaupt dumpf-braunen Sumpfquark.

So, und warum denke ich so intensiv über diese Dinge nach, obwohl ich doch praktisch alles studiert habe, nur nicht die hohe Kunst des Staatsrechts? Nun: Weil ich zu denen gehörte, die sich einbilden, sie seien zweisprachig aufgewachsen. Mein Vater stammt nämlich aus der Oberpfalz. Ich weiß nicht wie er es hingekriegt hat, doch nach nur knapp 50 Jahren Sesshaftigkeit im oberen Pegnitztal gilt er bei den meisten als Einheimischer. Das will etwas bedeuten, denn das Gedächtnis der Leute ist ausgezeichnet, die da zwischen Hohenstadt und Neuhaus leben, und die Zuwanderung dort rauscht jetzt auch nicht derartig hektisch daher, dass man so schnell den Überblick verlieren könnte.

Sein Fränkisch kann man als quasi perfekt bezeichnen; wohin hingegen der altbayerische Zungenschlag, das wirklich bizarre Oberpfälzisch, mit dem mein Vater in Tirschenreuth aufwuchs, verschwand, ist mir ein Rätsel. Jugend und Kindheit in einer Gegend, die ein schönes Stück hinter Weiden liegt, und wo, einer wirklich üblen Nachrede gemäß, hauptsächlich gebellt wird — das müsste doch Spuren hinterlassen haben, denke ich. Aber i wo! Weiches und hartes „b“ spricht er makellos ununterscheidbar wie der Nürnberger Zweig meiner Sippe, sogar ein „Bläidl“ rutscht ihm ab und an aus dem Mund, wenn dieser nicht gerade von einer „Brodwoschd“ verstopft ist.

Die Tirschenreuther Oma galt bei uns als Tschechin, weil sie von „Bawalatschen-Zeugl“ sprach, wenn sie Grawitschko meinte, und nach dem Mittagessen „Natzerln“ hielt. Oma sagte „Kennkarte“ zum Perso und „Grenzschein“ zum Reisepass und verbot uns zu zwogern (Fingernägel kauen). Sie verwirrte mich, indem sie „Euer“ sagte und „herunter“ meinte, während sie „Euch“ komplett vermied: „Wäi gäits enk nocherd?“ erkundigte sie sich nämlich nach dem Befinden, und sie bat: „Longstmeramol dös Haferl douda oia“, wobei sie aufs Regal mit den Tassen deutete, während das „Nachthaferl“ unter ihrem Bett stand.

Wohinaus will ich eigentlich...? Genau: dass deine Heimat dort auf dich wartet, wo sie so sprechen wie du selbst. Meine Oma musste nur einmal den Mund aufmachen, und schon wusste man, wo wegen ihr der Storch zweimal geklappert hatte, während mein eingewanderter Vater als lupenreiner Muster-Nordfernostmittelfranke gelten darf.

Ohne mich mit Fachleuten anlegen zu wollen, die den ganzen Staatsrechtskram studiert haben, finde ich, dass man diesen Gedanken einmal gründlich zu Ende denken sollte. Hier also mein total innovatives Konzept: die sprachabhängige Staatsbürgerschaft! Jeder Mensch ist automatisch in den Ländern daheim, in denen er sich mit den Menschen, die dort schon wohnen, verständigen kann. Man könnte also ganz allein aus eigener Kraft gleichzeitig in zwei, drei und noch mehr Ländern zu Hause sein.

Und niemand wäre staatenlos. Jedes Menschlein verfügt ja eher früher als später über irgendeine Art Sprache, mit der das Kind den Kontakt mit seiner noch ungewohnten Umgebung aufnimmt; Zeichensprache und dergleichen sind natürlich vollwertige Idiome.

Wie sorgfältig würden wir die Welt behandeln! Denn egal wo, wir wären potentiell überall daheim, wo eine erlernbare Sprache gesprochen wird: Englisch, Tschechisch, Hindi. Mit jeder zusätzlichen Sprache würde unsere Heimat größer, bunter und schöner. Mit China wäre es minimal schwieriger, aber unmöglich auch nicht. Wer wirklich Chinese werden will, beißt sich auch durch den Mandarin-Unterricht, mit und ohne Stäbchen. Welches Heimatrecht man sich mit Latein oder Altgriechisch erwürbe, würde spontan geregelt.

Eine Sprachstaatsbürgerschaft ließe sich ganz elegant staffeln, etwa in die Stufen: Anfängerbürger mit Vorkenntnissen (Hallo, wie geht?), fortgeschrittene Einwohnerschaft (Was soll die scheinheilige Frage?) bis hin zur verhandlungssicheren Staatsangehörigkeit (Ihre konkrete Befindlichkeit beschäftigt mich definitiv!).

Einbürgerungswunsch? Kein Problem: einfach büffeln bis der Ausweis kommt!


 

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