Zugunglück: 1928 kam es zur Tragödie in Siegelsdorf

25.5.2018, 11:00 Uhr
Zugunglück: 1928 kam es zur Tragödie in Siegelsdorf

© Nürnberger Zeitung

Keiner der insgesamt 200 Zeugen, die im Nachgang ein Jahr lang vor dem Fürther Amtsgericht zu dem Unglück befragt wurden, erwähnte ihn: den starken Regen, der in der Nacht von Freitag auf Samstag auf Siegelsdorf gefallen war. Nur den Eltern von Johann Gerstung, die etwa 300 Meter entfernt von der Unfallstelle wohnten, war er im Gedächtnis geblieben.

Sie erzählten ihrem Sohn von der Katastrophe, die sich in der Nacht zum darauffolgenden Sonntag, dem 10. Juni, abspielte. Von dem lauten Knall, der sie aus dem Bett riss. Von den aufgeregten Stimmen. Von den Schreien der Verwundeten. Und davon, dass der heftige Regen vermutlich das Erdreich der Böschung aufgeweicht hatte, von der der DE 47 gestürzt war.

Zugunglück: 1928 kam es zur Tragödie in Siegelsdorf

© Foto: Nürnberger Zeitung

Wäre Johann Gerstung, heute 85 Jahre alt, nicht von Kindesbeinen an Eisenbahner durch und durch gewesen, vielleicht hätte er dieses Detail irgendwann vergessen. Doch er stand seit seinem Jugendalter im Dienst der Bundesbahn, er lernte unter anderem in Siegelsdorf. Gerstung hat sich gründlich mit der Katastrophe vor 90 Jahren befasst, die alten Zeitungsausschnitte aus dem Jahr 1928 hat er aufgehoben. Das Papier ist stark vergilbt, die Buchstaben in altdeutscher Schrift sind teils schwer zu entziffern. "Unfallstätte ein Bild des Grauens", schrieb das Blatt damals. Die Ursache war im Nachgang des Geschehens unklar und ist es noch heute. Doch der Hergang ließ sich rekonstruieren.

Der DE 47 von München nach Dortmund hatte den Nürnberger Bahnhof um 1.55 Uhr mit einer Minute Verspätung verlassen. Um 2.06 Uhr kam er in Fürth an, Burgfarrnbach durchfuhr er laut Zugmeldebuch um 2.19 Uhr. Zwei Minuten später waren 24 Menschen tot, der 512 Tonnen schwere Zug zum Großteil ein Wrack.

Im Rückblick wirken die Ereignisse, die dazu führten, wie die Chronik einer angekündigten Katastrophe. Noch am Samstagmittag hatten der Rottenmeister und seine Truppe an den Gleisen gearbeitet, erinnert sich Gerstung an die Erzählungen. Um den Zügen am Siegelsdorfer Bahnhof das Überholen zu erleichtern, wurde eine neue Weiche gelegt, dafür die Böschung neu eingebettet. "Vielleicht war das Erdreich noch nicht ganz fest gestampft", vermutet Gerstung. "1928 gab es dafür ja nicht moderne Maschinen, so wie heute."

Nach den Arbeiten entfernte der Rottenmeister das Dreieck mit der Geschwindigkeitsbegrenzung, das sogenannte Langsamfahrsignal oder LF-Signal, das die Züge vor dem Bahnhof abbremste. Es überprüfte zudem niemand mehr die Baustellenzone. Andere Quellen sprechen von einem Rechenfehler beim Vermessen, durch den die Gleise nicht in optimaler Position standen, sowie von einer Lok-Vorderachse, die Mängel aufwies – wie viele Achsen dieser Bauserie.

Den Briefkasten leerte niemand

Mehrere Züge passierten vor dem Unglückszeitpunkt den Bahnhof: Einer habe wegen der starken Schwankungen Postpakete verloren. Passagiere hätten berichtet, auf dem Streckenabschnitt heftig hin- und hergeworfen worden zu sein, so Gerstung. Der Zugführer meldete die Turbulenzen jedoch nicht. Später sei ein weiterer Zug durch Siegelsdorf gefahren.

Auch dieser schwankte gefährlich. Der Zugführer füllte zwar eine Meldekarte aus und warf sie in Würzburg in den Briefkasten am Bahnhof – doch am Sonntag leerte den niemand.

Es wäre allerdings sowieso zu spät gewesen. "Der Zugführer hätte in Neustadt an der Aisch eine Notbremsung machen und dort den Hinweis geben müssen, dass in Siegelsdorf nur Schrittgeschwindigkeit gefahren werden darf", sagt Eisenbahnexperte Gerstung. "Warum er es nicht tat, ist mir schleierhaft. Aber hinterher redet es sich natürlich immer leicht."

Also telefonierte am Samstagabend, 9. Juni, niemand nach Siegelsdorf. Auch dem Streckengeher, der die Gleise regelmäßig überprüfte, fiel nichts auf.

Je mehr Züge durchrauschten, desto schwächer wurde vermutlich das Erdreich an der Böschung. Der DE 47 dürfte mit rund 80 Stundenkilometern auf den wackeligen Abschnitt gefahren sein, schätzt Gerstung. Er brauchte Schwung, um die Steigung hinaufzukommen, das LF-Signal fehlte außerdem.

Lok stürzte ab

Zwischen Zennbrücke und Kagenhofer Weg passierte es dann: Das Laufrad-Drehgestell der Dampflok riss ab, die Lokomotive drehte sich um 180 Grad gegen die Fahrtrichtung und stürzte rechts den Hang hinunter. Lediglich die Post- und Schlafwagen am Ende entgleisten nicht.

Am schlimmsten traf es den vierten der insgesamt zwölf Waggons, berichteten damals die Journalisten. Er fiel auf die Lokomotive, der fünfte wiederum fiel auf den vierten. Durch den Aufprall explodierte der Dampfkessel, mit dem die Lok angetrieben wurde. Das heiße Wasser verbrühte die Insassen des vierten Wagens, von denen kaum einer überlebte.

Der Heizer rettete sich mit einem Sprung

In der Zeitung von 1928 waren die Namen der Opfer, sofern identifiziert, Alter und Todesursache angegeben – heute aus ethischen Gründen undenkbar. Die Feuerwehren aus Nürnberg, Fürth und Veitsbonn, ebenso wie das Rote Kreuz, waren im Einsatz. Den vielen Helfern und Freiwilligen aus dem Ort gelang es, Lebende aus dem Wrack zu holen. Der Heizer hatte sich mit einem Sprung von der Lok retten können, der Zugführer kam ums Leben.

Die genaue Unfallursache wurde auch vor Gericht nicht eindeutig geklärt. "Der Bahnmeister war angeklagt, wurde aber zu einem Vierteljahr Haftstrafe auf Bewährung verurteilt", erzählt Gerstung. Die Lok wurde wieder flottgemacht und tat noch Dienst bis 1957.

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