"Bei Problemen ist sie immer davongelaufen"

20.5.2015, 13:30 Uhr

© Eisenbrand

Zweimal hat der 62-Jährige aus Aschaffenburg ausführlich mit Claudia T. (Name geändert) gesprochen, diverse medizinische Gutachten anderer Ärzte studiert und einmal sogar ihre Eltern im Frickenfelder Reihenhaus besucht. Am Ende hielt er die junge Frau, die der gefährlichen Körperverletzung angeklagt ist, für glaubwürdig und schuldfähig – trotz einer genetisch bedingten Aufmerksamkeitsstörung. Aber das Rätsel, warum sie von dem Obdachlosen-Milieu so magisch angezogen fühlte, konnte auch er nicht lösen: Das sei eine "spannende Frage". Und: "So einen Fall hatte ich in 30 Jahren noch nicht."

Rückblick: Am 17. Juni 2014 starb nach einem Streit in der Gunzenhäuser Obdachlosen-Unterkunft in der Nürnberger Straße der 54 Jahre alte Frank G., mutmaßlich unter den brutalen Tritten des jetzt vor dem Landgericht Ansbach wegen Totschlags angeklagten Aleksandr M. Claudia T., die damals mit dem Drogen- und Alkohol­kranken eine Beziehung hatte, gestand, das bereits am Boden liegende Opfer ebenfalls getreten zu haben. "Ich wollte dazugehören", nannte sie vor Gericht und im Gespräch mit Trott als ihr Motiv. Nach vergeblichen Wiederbelebungsversuchen sei es ihre Idee gewesen, das Opfer, das sie eigentlich als "freundlichen Menschen" kannte, auf die nahen Bahngleise zu schleppen, um die Tat wie einen Unfall aussehen zu lassen. Ein dritter Angeklagter, der 36-jährige Viktor H., hatte die Tat offenbar weitgehend verschlafen.

Claudia T. sei durchschnittlich intelligent, bescheinigte ihr Gutachter Trott, sie habe keine psychische Erkrankung und keine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung. Auffällig sei allenfalls, dass in allen Schulzeugnissen, die er beim Besuch in Frickenfelden habe einsehen können, "von Anfang an von Zerstreutheit und Konzentrationsproblemen die Rede“ gewesen sei. Sie sei schon im Kindergarten mit anderen Kindern nicht klargekommen, und auch später habe sie sich häufig gekränkt und unverstanden gefühlt.

"Gute Mutter, immer hilfsbereit"

Ihre Mutter schilderte Claudia T. dem Psychiater gegenüber als "gute Mutter und immer hilfsbereit“. Bei weiteren Angaben zu ihrer Familie sei sie jedoch, so Trott, "bemerkenswert ungenau“ geblieben: Den Beruf der Mutter wusste sie nicht genau ("irgendwas im Büro“), das Geburtsjahr des Vaters, eines Lkw-Fahrers, der sie auch schon mal "grün und blau“ schlug, konnte sie ebenfalls nicht nennen. Nicht einmal, ob es sich nun um ihren leiblichen oder den Stiefvater handelte, vermochte sie zu sagen. Den Aufenthaltsort ihrer älteren, 1990 geborenen Schwester kannte sie nicht, lediglich mit der jüngeren Schwester komme sie "gut zurecht“.

Die Mutter selbst, eine schwergewichtige Frau mit dunkelroter Lockenmähne und schwarzer Kleidung im Gothic-Style, lauschte gestern im Gerichtssaal jedem Wort mit großer Aufmerksamkeit und unterhielt sich auch in Verhandlungspausen mit ihrer Tochter. Sie bezeichnete sich Trott gegenüber selbst als "zu weich" in Erziehungsfragen. Allerdings habe sie sich sehr wohl um Claudia gekümmert, so der Experte, der als ein Indiz dafür das komplett ausgefüllte Vorsorgeheft nannte: "Das ist normalerweise ein Kriterium für Fürsorge." Wenn es zu Hause einmal Streit gegeben habe, dann wegen ganz normaler Kleinigkeiten wie einem unaufgeräumten Zimmer. Claudia T. zeigte in Fällen wie diesen eine immer gleiche Reaktion: weglaufen.

Sie wollte fort von zu Hause, haute aus mehreren Betreuungseinrichtungen ab, schmiss die Schule in Gunzenhausen  – und sogar zum ersten Prozesstag im April war sie nicht erschienen, sondern untergetaucht. „Bei Problemen ist sie immer davongelaufen“, so Gutachter Trott. Und letztendlich unter Obdachlosen, Trinkern und Schlägern gelandet.

Die Beziehung zum Hauptangeklagten, dem Deutsch-Russen Aleksandr M. (36), ist für Trott "schwer zu interpretieren". Claudia T. betonte ihm gegenüber, der suchtkranke, schwer hinkende Mann habe sie "ernst genommen und sei immer für sie da gewesen". Allerdings verkannte sie auch nicht die dunkle Seite des Mannes: Sein exzessiver Umgang mit Alkohol sei ein massives Problem gewesen. Letztendlich sei sie wohl, so Trott, in der Obdachlosen-Unterkunft gelandet, "weil sie das Gefühl hatte, nirgendwo dazuzugehören". Hier fand das Mädchen, das sich, wie viele andere Teenager mit psychischen Problemen, immer wieder massiv "geritzt" habe, so etwas wie "Kameradschaft".

Die freilich nicht für alle Bewohner galt. Gestern Nachmittag wurde vom Gericht die Aussage eines inzwischen in Polen untergetauchten Exbewohners verlesen, der von den drei Angeklagten bereits vor der Todesnacht massiv verprügelt worden und danach sogar mit dem Tode bedroht worden sein soll. Angeblich auch von Claudia T., die im Suff mitunter auch Wodka­flaschen gezielt auf ihn geworfen haben soll.

Für die Zukunft empfiehlt Trott Claudia T. eine medikamentöse Therapie und ein Leben in einer spezialisierten Einrichtung. Sie sei noch „prägbar“ und habe den Willen, einen  Schulabschluss zu machen, was ihr mit Unterstützung einer medikamentösen Therapie auch gelingen könne. Allerdings, so mahnte der Experte, brauche sie einen „klaren, strikten Rahmen“, denn: "Mit Freiheit kann sie nicht umgehen".

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