Der Menschlichkeit verpflichtet

29.1.2015, 07:00 Uhr
Der Menschlichkeit verpflichtet

© Tina Ellinger

Seit über 20 Jahren kümmert sie sich um eine spezielle Gruppe von Asylbewerbern, setzt sich mit all ihrer Zeit und Kraft für die sogenannten Härtefälle ein. Für dieses aufwendige und umfassende ehrenamtliche Engagement wird sie heute um 14 Uhr im Landratsamt Weißenburg-Gunzenhausen mit der Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Es war wohl eine dieser besagten Fügungen, durch die die pensionierte Wirtschaftsschullehrerin 1994, erstmals mit dem Thema Asyl in Berührung kam. Wegen ihrer guten Englischkenntnisse wurde sie von einem Bekannten gebeten, Einwanderungspapiere für Australien auszufüllen. Es ging um einen jungen Serbokroaten, der vor dem Krieg aus seiner Heimat geflohen war, weil er nicht auf Freunde und Nachbarn hatte schießen wollen. Er verdiente sich in Gunzenhausen seinen Lebensunterhalt, sollte aber nach zwei Jahren in das Kriegsgebiet zurückgeschickt werden. Sein Chef wollte ihm helfen und dem jungen Mann die Ausreise zu seiner Schwester ins sichere Australien ermöglichen.

Für Sigrid Mayr-Gruber war das der Startschuss für ihre Asylarbeit – und der Beginn eines „dornenreichen Wegs“. Spätestens als im Ausländeramt der Satz „Gesetz ist Gesetz“ fiel, gab es für sie kein Halten mehr . „Das hat mich auf die Palme gebracht“, empört sich die Mutter zweier erwachsener Kinder noch heute, und betont: „Man darf das Gesetz nicht vor den Menschen stellen.“ Da der Serbokroate nicht weiter arbeiten durfte und dadurch seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten konnte, nahm sie ihn bei sich auf und bemühte sich, all die nötigen Urkunden und Nachweise zusammenzubekommen. Mehrmals fuhr sie nach Bonn und wurde bei der australischen Botschaft vorstellig, um das Verfahren zu beschleunigen, ständig den Druck der deutschen Behörden im Nacken. Schließlich, nach acht Monaten, zahlte sich ihre Hartnäckigkeit aus und der Serbokroate durfte ausreisen.

Engagement sprach sich herum

Diesem ersten Fall sollten viele folgen, schnell sprach sich das Engagement von Sigrid Mayr-Gruber in der Region herum. „Plötzlich stand ich mitten in den Asylfällen drin“, erinnert sich die Lehrerin im Ruhestand an ihre Anfänge als Asylhilfe. Dabei war sie selbst gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe. 1986 hatte sie ihren Beruf aufgeben müssen, so sehr wurde sie von Migräneattacken, die erst seit etwa neun Jahren nachgelassen haben, geplagt. Darauf folgten Jahre, in denen sie versuchte, „gegen den Schmerz anzuschreiben“. Sie veröffentlichte elf Bücher mit Gedichten, Fabeln und Kurzgeschichten.

Seit im Herbst 2006 in Bayern die Härtefallkommission eingerichtet wur­de, ist sie in ständigem Kontakt mit dieser. Als Härtefall gelten Asylbewerber, die eigentlich in ihr Heimatland zurückgeschickt werden sollen, die aber seit mindestens fünf Jahren in Deutschland leben, hier gut integriert sind, einer Arbeit nachgehen und nicht straffällig geworden sind. Aufgabe von Sigrid Mayr-Gruber ist es, betreffende einzelne Asylbewerber beziehungsweise ganze Familien zu befragen – die Fälle werden ihr mittlerweile aus ganz Bayern zugetragen –, ihre Akten zusammenzutragen und aus allem ein Plädoyer zu erstellen. Das schickt sie dann an die Kommission, die aus ehrenamtlich arbeitenden Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche, von Diakonie, Caritas und AWO und vier Vertretern von Städten und Gemeinden besteht. Dieses Gremium wiederum entscheidet anhand ihrer Vorarbeit, ob der Betroffene dem bayerischen Innenministerium als Härtefall vorgeschlagen wird. Dort wird dann festgelegt, ob er bleiben darf.

Neben den Härtefällen wird sie außerdem immer wieder zu sogenannten Notfällen gerufen: Das sind Asylbewerber, die noch keine fünf Jahre in Deutschland leben und denen direkt die Abschiebung droht. Die aber eventuell ausnahmsweise trotzdem hier bleiben könnten, etwa weil das Herkunftsland (noch) zu gefährlich ist und den Menschen dort Folter, Gefängnis oder Tod droht oder sie gesundheitlich angeschlagen sind. Und sie eine so rührige Unterstützerin wie Sigrid Mayr-Gruber finden, die, wenn es brennt, auch mal eine Nacht durcharbeitet, um die Unterlagen und Lebensgeschichten zu prüfen.
Aktuell hat sie rund 100 Fälle beider Kategorien auf dem Tisch liegen und hinter all dem vielen Papier, das sich in ihrem Arbeitszimmer stapelt, stecken Schicksale. Wie das eines katholischen Palästinensers, der 30 Jahre in Deutschland gelebt hat, nie auffällig war und sich seinen Lebensunterhalt verdiente und dann plötzlich abgeschoben werden sollte.

Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn

Oder der Fall eines taubstummen Tamilen, dessen zwei Söhne in Sri Lanka ermordet worden waren und der aufgrund etlicher amtlicher Pannen zurück in sein Heimatland sollte, obwohl dort der Bürgerkrieg tobte. In einer ersten Instanz war kein geeigneter Gebärdendolmetscher bestellt worden, der Sachbearbeiter aber behauptete, der Tamile habe keinen plausiblen Vortrag über seine Gefährdung gehalten – eine Ungerechtigkeit, die bei der streitbaren Pensionärin noch beim Erzählen Ärger und Unverständnis hochkommen lässt und die sie nicht einfach hinnehmen will. Daher setzt sie alle Hebel in Bewegung, um Abhilfe zu schaffen.

Getrieben wird sie von ihrem von Kindesbeinen an ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ihrem christlichen Selbstverständnis. Sie kann und will nicht einfach zuschauen, wie charakterlich gute Ausländer von Abschiebung bedroht sind und mit anderen über einen Kamm geschoren werden, erklärt sie. Und sie wägt sehr genau ab, für wen sie ihre Kraft einsetzt. Manchem Asylbewerber erteilt sie eine Absage, beispielsweise wenn er straffällig geworden ist, mit Drogen zu tun gehabt hat oder unehrliche Angaben gemacht hat. „Dann kann ich ihm nicht helfen.“

Sigrid Mayr-Gruber hat sich in den vergangenen 20 Jahren nicht nur ein umfassendes Wissen zur Gesetzeslage und viel Routine im Umgang mit den Behörden angeeignet, sondern auch gelernt, die zum Teil erschütternden menschlichen Schicksale, mit denen sie sich auseinandersetzen muss, auszuhalten. Geholfen dabei hat ihr der Gedanke, dass sich auch ein Notarzt nicht einfach hinstellen und heulen könne: „Ich kann nicht.“ Vielmehr setzt sie auf das „gute Gefühl, alles versucht zu haben“.

Viel mehr als ein Full-Time-Job

Es ist in jedem Fall mehr als ein Full-Time-Job, den die 71-Jährige da unentgeltlich leistet. Nicht selten greift sie sogar in ihre eigene Tasche, etwa um ein Trauma-Gutachten zu bezahlen oder einen finanziellen Engpass zu überbrücken. An Schulen und auch vor erwachsenem Publikum hält sie Vorträge und wirbt für ihr Anliegen. Ihre Aufgabe als Asylhilfe ist für sie Berufung und ihre Hilfsbereitschaft kennt kaum Grenzen: So hat sie die amtliche Betreuung für einen schwer traumatisierten Kosovo-Albaner übernommen und ist außerdem Bezugsperson für einen 19-jährigen Äthiopier.

Ans Aufhören denkt die engagierte Helferin noch lange nicht und hofft, trotz diverser körperlicher Beeinträchtigungen noch vielen Menschen Mut und Hoffnung geben zu können. Für ihre wertvolle, ehrenamtliche Arbeit erhielt sie 2011 den „Ehren­wertpreis“ der Stadt Nürnberg und 2013 war sie zu Gast beim Neujahrsempfang der bayerischen Staatskanzlei, wo ihr Ministerpräsident Horst Seehofer persönlich dankte. Nun folgt heute also die Verdienstmedaille, die ihr der Bundespräsident verleiht und die ihr Landrat Gerhard Wägemann überreichen wird. Und auch, wenn große Reden und überschwänglicher Dank gar nicht so ihr Ding sind, ist es „eine tolle Anerkennung“, und auf die darf sie zu Recht stolz sein.

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