"Geschichte zum Anfassen" am Altmühlsee

1.11.2018, 06:03 Uhr

© Foto: Reinhard Krüger

"Und los! – Und los! – Und los!" Klar und unmissverständlich kommen die Kommandorufe des Rudermanns. Er steht breitbeinig am Heck des gewaltigen Boots: 15 Meter lang, 2,70 Meter breit und 2,5 Tonnen schwer. Schlank und rank ist er und sein schon lichteres Haar wild zerzaust. Die Augen blitzen voller Vorfreude, und ein breites Grinsen ist nicht zu übersehen. Der Rudermann ist auch der geistige Vater eines Projekts, das es so bislang nicht gegeben hat. Er heißt Boris Dreyer, ist 51 Jahre alt und seit acht Jahren ordentlicher Professor für Alte Geschichte an der Uni Erlangen.

Statt im Hörsaal zu lehren, dirigiert er gerade 18 Studentinnen und Studenten über den Altmühlsee. Nicht nur als anerkannter Experte für Alte Geschichte und Archäologie macht der aus dem Ruhrgebiet Stammende eine gute Figur, sondern auch als "Einpeitscher". Mit dem Megaphon in der Hand skandiert er den Rhythmus vor. Gleichmäßig klatschen die mächtigen Ruder in den an diesem Tag stillen Altmühlsee. Konzentriert versuchen die angehenden Historiker und Maschinenbau-Ingenieure, Kraft und Technik zu koordinieren. Schon nach kurzer Zeit werden die ersten Jacken ausgezogen. T-Shirt statt Softshell. Schweiß abwischen statt Laptop und Notizblock.

Ein interdisziplinäres Projekt sollte es sein zum 275-jährigen Jubiläum der altehrwürdigen Bildungseinrichtung, erzählt der Professor. Ob sich zwei so entgegengesetzte Disziplinen überhaupt ergänzen können? Dreyer verweist erst mal auf die Geschichte: "Auch die Soldaten des römischen Reiches wurden zum Rudern abkommandiert, hatten keinerlei Vorerfahrungen." Spricht, lacht und zeigt auf die schwitzenden jungen Studenten von heute: "Genau wie die da!". Im Übrigen gab es nie Sklaven auf römischen Booten, doziert er weiter.

© Foto: Reinhard Krüger

Ganz hinten am Heck sitzt Bastian Schöneberger. Der wissenschaftliche Mitarbeiter für Strömungsmechanik hat eine Reihe von Messgeräten um sich aufgebaut. Woher kommt wie viel Wind, wie schnell wird gefahren, wie ist der Puls von drei ausgewählten Probanden und wie die ideale Linie des Bootes? Alles wird registriert, notiert und in einem Diagramm sichtbar gemacht. "So lernen beide Seiten", sagt der Hochschullehrer.

"Ganz schön anstrengend"

Wie Marco Gäß aus Fürth. Der 25-Jährige studiert im neunten Semester Geschichte und Englisch fürs Lehramt. Ihn habe das Projekt "Antike Binnenschifffahrt mit praktischen Übungen" gereizt, sagt er. Was allerdings so im Einzelnen in diesem Proseminar auf ihn zukommen sollte, konnte er nicht ahnen. Die FAN ist bereits zum zweiten Mal am Altmühlsee. Auch bei der Jungfernfahrt war Marco Gäß dabei und spürte hinterher alle Knochen: "Das war ganz schön anstrengend", stöhnt er, sieht aber den praktischen Reiz ganz deutlich: "Jetzt weiß ich, wie sich die Leute damals fühlten, das wird mir vielleicht im späteren Job helfen".

Sein Kumpel Tobias Maisch aus Nürnberg sieht es ähnlich. Der 23-Jährige studiert Politik und Geschichte für den Bachelor und "will nicht immer nur in der Uni sein". Er ist, wie viele seiner Kommilitonen, absoluter Ruderneuling. Und für die hat ihr "Prof" einen ganz praktischen Rat: "Machen Sie einfach das, was die anderen machen." Lernen durch Beobachten und selbst Ausprobieren. So geht Wissenschaft heute. Oder "Geschichte zum Anfassen".

Nahe am Original

Ein Jahr tüftelten Antikexperten und Ingenieure über Holzart, Segeltechnik, Farben und Form eines solchen Bootes. "Wir reden hier von der Zeit um Christi Geburt bis spätestens 100 Jahre danach", sagt Experte Dreyer. Unterlagen darüber in den Archiven zu finden ist schon eine sportliche Herausforderung. Schließlich geht es darum, dem Original möglichst nahe zu kommen. Zeichnungen und Reliefs gibt es schon, "aber nicht von diesem Boot", sagt Dreyer und nennt die wissenschaftliche Herausforderung: Wie lange müssen die Ruder sein, wie groß darf das Rahsegel sein, und was kann es alles leisten?

Vor einem Jahr haben die Initiatoren ein großes Zelt auf einem Sportplatz aufgestellt und mit rund 90 Interessierten in zwei Schichten gebohrt, gesägt, geleimt und genagelt. Die allermeisten im Rentenalter. Ärzte, Ingenieure, Landwirte. "Ich habe viel über antiken Schiffsbau dabei gelernt", sagt Ruheständler Peter Schedel aus der Nähe von Erlangen. Der ehemalige Vertriebschef bei MAN kümmerte sich beruflich um Marinemotoren bei schnellen Jachten. "Das ist jetzt eine ganz andere Hausnummer", staunt er. Auf seine "Rentnergang" lässt Dreyer freilich nichts kommen: "Ohne die wäre ich ziemlich alleine dagestanden." Ein pfiffig gemachter Film über die geplante Aktion im Internet sorgte für eine positive Resonanz.

Jetzt gleitet das elegant aussehende Patrouillenboot über den Altmühlsee. Der Puls der Studenten hat auf 121 beschleunigt, Dreyer schreit: "Schneller, schneller!", er will Leistung sehen und dann das Rahsegel setzen. Rund 25 Quadratmeter groß, rechteckig. Es klemmt, der Chef höchstpersönlich entwirrt die Knoten, dann bläht es sich auf. Majestätisch nimmt das Boot Fahrt auf. "6,3 Kilometer fahren wir", meldet Techniker Schöneberger.

Und wie war der zweite Törn? "Eine coole Sache", meint die angehende Maschinenbau-Ingenieurin Sophia Nürnberger, während Tobias Maisch "den Spaß in der Natur" hervorhebt. Und der Prof? "Bin sehr zufrieden, prima Team und das wissenschaftliche Ziel nicht aus den Augen verloren." Will heißen: Die Leistungsfähigkeit wurde ausgelotet. Ein rund 2000 Jahre altes Boot wurde eins zu eins nachgebaut und unter Ruder und Segel getestet. Dabei waren viele Unwägbarkeiten mit im Spiel. Heimfahren, auswerten, analysieren und weitermachen, so geht es jetzt weiter. Da sage noch einer, alte Geschichte ist was für Stubenhocker.

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