Gunzenhausen: Leben mit einem autistischen Kind

6.11.2016, 07:42 Uhr
Gunzenhausen: Leben mit einem autistischen Kind

© Marianne Natalis

Auch Kerstin und Holger Kleemann haben sich früher wenig Gedanken über Autismus gemacht. Als der kleine Lukas 2002 das Licht der Welt erblickte, freuten sich die beiden über ihren ersten Sohn, der sich zunächst auch ganz prächtig entwickelte. Ob Krabbeln oder Laufen, die ersten Zähne oder die ersten Worte – Lukas war immer einer der Ersten in der Krabbelgruppe.

Allerdings entwickelte sich Lukas nach und nach zu einem ängstlichen Kind, das vor allem auf laute Geräusche stark reagierte. „Er ist halt sehr empfindlich“, dachten die Eltern damals. Dass da auch schon mal ein Stuhl durchs Kinderzimmer flog und Neuerungen in Schreianfällen enden konnten, das erschien den sehr jungen Eltern als normal. Was weiß man schon beim ersten Kind.

Lukas tut sich schwer mit plötzlichen Änderungen. Deshalb gewöhnten sich Holger und Kerstin Kleemann an, die Dinge frühzeitig anzukündigen. So gab es, wenn dann tatsächlich Bettgehzeit war, keinen Stress. Ihnen erschien das völlig normal.

Erst im Kindergarten wurde den Eltern bewusst, dass diese Ankündigungspolitik nicht allgemein üblich ist. Dort sollte Lukas, wie alle anderen Kinder auch, von jetzt auf gleich Spielzeug aufräumen, wenn die Zeit um war. Das führte bei ihm regelmäßig zu Ausrastern.

„Da bin ich ausgetickt“

„Das Ungewohnte macht mir Angst“, beschreibt Lukas selbst es am heimischen Esstisch. Wenn die Dinge nicht so sind, wie er es kennt, wenn etwa der Tisch plötzlich nicht mehr an seinem angestammten Platz steht, dann „kann ich entweder in Panik ausbrechen oder stinksauer werden“. Gut erinnern sich Mutter und Sohn noch daran, wie sie gemeinsam im Kino „Oh wie schön ist Panama“ ansehen wollten. Das Buch liebte Lukas über alles, immer wieder hatten sie es zusammen angesehen. Der Film erzählt die Geschichte allerdings etwas anders. Das ging gar nicht. Und dann war das Ganze auch noch mit spannender Musik untermalt. „Da bin ich ziemlich ausgetickt“, grinst er rückblickend.

Im Kindergarten eckte Lukas mit seinem Verhalten ständig an. Dazu kam, dass er feinmotorisch mit den anderen Kindern nicht mithalten konnte. Und mit ihren ganz speziellen Antennen für Andersartigkeit hatten die Lukas schnell auf dem Kieker. Die Eltern waren hilflos, überfordert. Und dachten immer noch, ihr Kind sei einfach sehr sensibel.

Heute weiß Kerstin Kleemann, dass sie die Zeichen vielleicht auch etwas früher hätte erkennen können. Sie selbst hatte ja oft genug gedacht: „Jetzt ist er wieder in seiner eigenen Welt.“ Doch als eine der Kindergärtnerinnen einmal das Wort Autismus in den Mund nahm, wiesen die Kleemanns das weit von sich. Das konnte einfach nicht sein, ihr Lukas war doch „ein ganz normales Kind“.

Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung, „die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirkt“, beschreibt es der Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus auf seiner Homepage. Sie tritt nicht plötzlich zutage, sondern macht sich erst nach und nach bemerkbar. „Schleichend“ ging das, erzählt Kerstin Kleemann.

Keinen Stempel aufdrücken

In der Schule wurde alles noch viel schlimmer, die Lehrer kamen mit dem Jungen nicht zurecht, Lukas wurde weiterhin von den Kindern gemobbt. Erneut gab es die Empfehlung, Lukas auf Autismus testen zu lassen. Doch Holger und Kerstin Kleemann konnten das damals einfach nicht annehmen. „Wir wollten keinen Stempel für unseren Sohn“, erzählt die Mutter, das Kind heiße Lukas, und mehr Namen brauche es nicht.

„Nein, nein, nein“, das kann Lukas so jetzt nicht stehen lassen. Schließlich heißt er doch auch noch Herbert und Alfred. Mit diesem Einwurf führt er gleich einen weiteren wichtigen Aspekt seiner Persönlichkeit vor Augen: Mit ungenauen, unklaren Aussagen kann Lukas nichts anfangen. Auch als seine Mutter von „Nachbarn“ spricht, muss er das sofort richtigstellen. Die besagten Menschen wohnen doch eine Querstraße weiter, und nicht nebenan. Und wenn im Englischunterricht die Verneinung Thema ist, dann kann niemand von Lukas verlangen, als Beispielsatz „I don’t like icecream“ zu sagen. Denn das wäre ja schlicht gelogen.

In der dritten Klasse war die Situation nicht mehr tragbar, die Kleemanns nahmen ihren Jungen von der Schule und meldeten ihn in der Montessorischule in Weiboldshausen an. Doch auch hier eskalierten die Dinge. Fast täglich gab es irgendeinen Ärger in der Schule. „Wir waren vollkommen verzweifelt“, schildert Kerstin Kleemann die Hölle, die die Familie damals durchmachte.

In ihrer Not fanden die Kleemanns dann doch den Weg zu der Gunzenhäuser Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. Katharina Goerck. Von ihr erhielten sie erstmals Gewissheit und eine Diagnose. Die löste nicht sofort alle Probleme, doch vieles am Verhalten ihres Sohnes wurde nun verständlicher. Und die Familie bekam Hilfe.

Nach der vierten Klasse wechselte Lukas an die Mittelschule Markt-Berolzheim-Dittenheim. In dieser integrativen Einrichtung wurde und wird ihrem Sohn nun viel Toleranz entgegengebracht, freuen sich Holger und Kerstin Kleemann. In seiner Klasse ist auch ein Mädchen mit Downsyndrom, Lukas ist damit nicht der Einzige, der anders ist. Man achtet auf einen freundlichen Umgang miteinander. Lukas fühlt sich dort wohl.

In der ersten Zeit nach der Diagnose bekam Lukas eine Schulbegleitung, mittlerweile wurde diese Unterstützung vom Jugendamt auf eine heilpädagogische Hilfe reduziert, die einmal wöchentlich kommt. Zudem hat er alle zwei Wochen im Autismuszentrum Schwaben in Nördlingen drei Stunden Therapie. Hier lernt er zusammen mit anderen autistischen Kindern und Jugendlichen ganz alltägliche Dinge wie Einkaufen oder Kochen. Montags ist im Rahmen des integrativen Kindersports des BRSV Gunzenhausen Schwimmen im Juramare angesagt, zudem reitet er zusammen mit seinen Geschwistern.

„Einfach mal ausprobieren“

Alles in allem haben sich die Dinge im Hause Kleemann normalisiert, der Umgang mit dem Sohn beziehungsweise Bruder ist sehr entspannt und alltäglich. Alles wäre gut, wenn da nicht der eine, große Wermutstropfen wäre: die mangelnde Bereitschaft, sich auf ihren Jungen einzulassen. Nicht alle Vereine und Gruppen — oder Elternhäuser — nehmen den 14-Jährigen mit so offenen Armen auf wie der örtliche Schützenverein. Dabei könnte es so einfach sein, sind Kerstin und Holger Kleemann überzeugt, denn „man braucht keine Spezialausbildung, um mit Lukas klarzukommen“, sagt Kerstin Kleemann. „Man könnte es einfach mal ausprobieren“, fügt der 38-jährige Landwirt hinzu.

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