„Lebensentwürfe sind bunter geworden“

6.11.2012, 15:46 Uhr
„Lebensentwürfe sind bunter geworden“

© Tina Ellinger

Angelehnt an die Initiative der Bundes-SPD unter dem Motto „Was muss in Deutschland besser werden?“ startete dazu nun in der Altmühlstadt die Reihe Bürger-Dialog. Dabei kommen Experten aus den jeweiligen Fachbereichen zu Wort, und auch Bürger sind aufgefordert, sich an der Diskussion zu beteiligen. Zum Auftakt im „Café Lebenskunst“ hatten die Organisatoren mit „Kinder, Familie, Jugend und Bildung“ ein ziemlich breit gefächertes Thema gewählt.
Ein Thema, das eigentlich vielen Leuten – Eltern, Erziehern, Lehrern, Betreuern von Jugendgruppen – unter den Nägeln brennen müsste. Trotzdem blieb die Zahl der Zuhörer überschaubar, was einem regen Austausch jedoch keinen Abbruch tat. Das lag zum einen an den kompetenten Gesprächspartnern, die Kreisvorsitzender Harald Dösel begrüßte und die reichlich aus ihren beruflichen Erfahrungen schöpfen konnten. Zum Dialog bereit standen Schwester Tanja Brandl vom Familienzentrum „Sonnenhof“, Diana Leickert vom Kinder- und Familienzentrum Wilhelm Löhe, Frank Schuldenzucker vom Bezzelhaus, Stadt- und Jugendpfleger Helmar Zilcher und Daniel Guckenberger vom Jugendzentrum Gunzenhausen. Auch die SPD-Bundestagskandidatin Anette Pappler aus Pappenheim, die als Sozialpädagogin in der Jugendwerkstatt in Langenaltheim arbeitet, brachte ihr Fachwissen in die Runde ein. Speziell für Fragen zur Situation in Gunzenhausen stand Bürgermeister Joachim Federschmidt zur Verfügung.
Als Moderatorin des Abends fungierte SPD-Ortvereinsvorsitzende Monika Wopperer, die zunächst die Frage in den Raum stellte, wie es denn mit den Familienstrukturen in der Altmühlstadt bestellt sei. Ihren Beobachtungen nach sind Familien bunter geworden und weniger: Laut Statistik gab es 1998 noch 9,4 Millionen Familien mit Kindern unter18 Jahren in Deutschland, 2010 war diese Zahl auf 8,1 Millionen gesunken. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Alleinerziehenden von 1,3 Millionen auf 1,6 Millionen an.
Soziale Netzwerke fehlen
„Die Lebensentwürfe werden bunter“, wusste denn auch Diana Leickert, die vor allem im Krippenbereich in ihrer Einrichtung eine stete Zunahme von Alleinerziehenden verzeichnet. Das seien durchgehend Frauen, die auf einen Krippenplatz angewiesen seien, um arbeiten gehen zu können. Und es seien oft Familien, die ein Mehr an Unterstützung bräuchten, zumal immer häufiger ein soziales Netzwerk (zum Beispiel Großeltern) fehlt. Neue Netzwerke als Ersatz für diese fehlenden zu fördern, sei „eine unserer Aufgaben“, erklärte Schwester Tanja, die die Erfahrung ihrer Kollegin nur bestätigen konnte. Dabei gehe es darum, den Betreffenden Möglichkeiten aufzuzeigen, ihnen „Hilfe zur Selbsthilfe“ an die Hand zu geben.


„Die Familien haben mehr Freiheitsmöglichkeiten“, lautete die Erklärung von Frank Schuldenzucker für diesen bundesweiten Trend. Diese unterschiedlichen Arten von Partnerschaft und Familie seien nicht per se schlechter. Die Frage sei vielmehr, wie man damit umgeht und wie man das ersetzt, wenn beispielsweise Oma und Opa fehlen. Brechen diese Stützen weg, geht oft auch die Ratgeberfunktion der Großeltern, etwa in Erziehungsfragen, verloren, gab Helmar Zilcher zu bedenken. Und schon kommen wieder Einrichtungen wie die Kindertagesstätten ins Spiel, die mit niedrigschwelligen Angeboten (Eltern-Café, Familiennachmittag) versuchen, die Mütter und Väter zu erreichen und Vertrauen aufzubauen, wie Diana Leickert und Schwester Tanja erklärten.
Die Zahl der Krippenplätze ist in Gunzenhausen übrigens „ganz ordentlich“, das Ausbauziel der Landesregierung ist mit 31 Prozent erreicht, erläuterte Joachim Federschmidt. In naher Zukunft sind zudem weitere Aufstockungen in den Einrichtungen geplant. Trotzdem gibt es in den Einrichtungen lange Wartelisten und die beiden Erzieherinnen empfahlen, Kinder am besten gleich ab der Geburt anzumelden.
Nein zu Betreuungsgeld
Dem Betreuungsgeld, für das die Koalition in Berlin ganz aktuell grünes Licht gegeben hat, erteilten die Fachleute in Gunzenhausen durch die Bank eine Absage. Frank Schuldenzucker sprach von einer „ganz falschen Richtung“, Diana Leickert hält es für ungerecht, da das Geld fließt, wenn das Kind nicht in eine Einrichtung gegeben wird, aber von einer Tagesmutter betreut wird, und Helmar Zilcher bezeichnete die Regelung als „pädagogisch total fatal“. Für Schwester Tanja steht die Frage des Missbrauchs dieser Leistung zu sehr im Vordergrund und nach den Worten von Anette Pappler erkauft sich die Regierung damit eine billige Alternative für fehlende Krippenplätze.
Ein Thema, das auch in einer Kleinstadt wie Gunzenhausen zu beobachten ist, ist die Kinderarmut. „Es gibt immer mehr Familien, die den Cent dreimal umdrehen müssen“, so Diana Leickert, die von den besorgten Blicken der Mütter erzählte, wenn wieder mal neue Schuhe für den Nachwuchs fällig sind. Hier sollen beispielsweise Tauschbörsen ein wenig Abhilfe schaffen. Auch Schwester Tanja weiß von Eltern, die an der Armutsgrenze leben, wobei vor allem im Hortbereich der Migrationshintergrund eine Rolle spiele. Diese Kinder bräuchten Unterstützung, nicht nur, um an Ausflügen teilnehmen zu können, sondern auch bei solch grundlegenden Dingen wie Kleidung. Zudem bestehe die Gefahr, dass diese Kinder von den anderen ausgegrenzt werden.
Armut bei jungen Leuten
Kinderarmut bedeutet in der Regel auch Armut bei den Jugendlichen, ist Daniel Guckenberger überzeugt. Aber die Hemmschwelle, das zuzugeben, sei sehr groß. „Es wird niemand sagen: ich bin arm!“ Diese Armut bei den Jugendlichen kann dazu führen, dass der für Schule oder Ausbildung notwendige Computer fehlt. „Sie schämen sich, das ihrem Meister zu sagen und können dann die Hausaufgabe nicht machen“, so die Erfahrung von Anette Pappler. Sie mahnte außerdem an, junge Leute dafür zu sensibilisieren, wie und in welchem Umfang sie im Internet unterwegs sind und welche Spuren sie dabei hinterlassen. Nach der Auffassung von Daniel Guckenberger und Helmar Zilcher („Ich würde das nicht so schwarz sehen.“) können „Facebook und Co.“ durchaus ganz nützlich sein. Und auch Frank Schuldenzucker geht davon aus, dass die Jugendlichen zwischen echten und virtuellen Freunden sehr wohl unterscheiden können. Es bringe nichts, sich total gegen diese Medien zu stellen, „da kann man nur verlieren.“
Offenere Formen, eine verbesserte finanzielle Ausstattung, weg mit dem Auslesedruck, wirkliche Inklusion und mehr Zeit für die Kinder – das waren die Antworten der Experten auf die Frage nach einer besseren Schule, wohlwissend, dass diese Wunschträume in Bayern wohl kaum in die Tat umgesetzt werden können.
Einen kleinen Schritt in die Richtung, was vielleicht nicht in ganz Deutschland, aber zumindest in Gunzenhausen besser werden muss, wurde an diesem Abend jedoch schon mal gemacht: Heike Nahrstedt von der Mittagsbetreuung in der Stephani-Schule und Stefan Langosch von der DJK Obererlbach haben ebenfalls tagtäglich mit jungen Menschen zu tun und wissen, wo es manchmal hängt, sei es am Geld, der mangelnden Vernetzung oder den fehlenden Zuständigkeiten. Sie konnten beim Bürger-Dialog mit den Fachleuten entsprechende Kontakte knüpfen, sodass einem weiteren Austausch und vielleicht so manchen Verbesserungen nichts im Wege stehen dürfte.

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