Ministerin besucht Polsinger Heime

4.8.2018, 17:31 Uhr
Ministerin besucht Polsinger Heime

© Fotos: Reinhard Krüger

Vereinbart war Punkt 13 Uhr und um genau 13.05 Uhr bog die schwarze Dienstlimousine in den Wilhelm-Löhe-Ring in Polsingen ein und hielt vor dem Haus Arche. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, 35 Grad zeigte das Thermometer, entsprechend sah die Garderobe der warteten Delegation aus. Nur Vorstandsvorsitzender Dr. Mathias Hartmann samt Kollege Jürgen Zenker kamen im schwarzen Anzug, alle anderen zogen das kurzärmelige Hemd vor. Noch einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche, dann ging die Tür auf, kurz noch die schicke rote Jacke zum schwarzen kniefreien Rock angezogen, schon setzte Kerstin Schreyer ihr strahlendes Lächeln auf und ging auf Diakonie-Boss Mathias Hartmann zu. "Ich freue mich auf den Besuch bei Ihnen, vielen Dank für die Einladung". "Und wir freuen uns auf Sie, herzlich Willkommen". Der Smalltalk funktionierte.

Seit einem halben Jahr ist die 47-jährige gebürtige Münchnerin Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales. Von Anspannung oder gar Nervosität in Polsingen keine Spur. Routiniert schüttelte die Ministerin freundlich die ihr entgegengestreckte Hände. Roswitha Fingerhut, Leiterin für Wohnen in Polsingen, Oettingen und Gunzenhausen, geleitete den hohen Gast in den Sitzungsraum. Bei Kaffee, Wasser und Gebäck ging es schnell zur Sache. Die Zeit drängte, nach spätestens eineinhalb Stunden ging es weiter zum nächsten Termin.

Zustande gekommen war dieses Treffen durch die Vermittlung von MdL Manuel Westphal aus Meinheim. Die letzten fünf Jahre saßen Schreyer und er in der gemeinsamen Fraktion, da kennt man sich. "Grüß dich Manuel, schön dich zu sehen". Die beiden verstehen sich gut und Westphal wusste es geschickt anzustellen, seine ehemalige Fraktionskollegin in den Hahnenkamm zu lotsen. Der Dank vom Neuendettelsauer Diakonie-Chef Hartmann war ihm gewiss.

Schlossgüter in solch abgelegenen Orten für die Arbeit mit Menschen mit einer Behinderung zu kaufen, entsprach damals vor über 150 Jahren durchaus dem Zeitgeist. Es war die erste Filiale der noch jungen Diakonie Neuendettelsau, die 1854 von Pfarrer Wilhelm Löhe gegründet wurde, erzählte Hartmann.

Heute arbeiten dort rund 500 Beschäftigte, die sich um 370 erwachsene Bewohnerinnen und Bewohner mit meist mehrfachen Behinderungen bis ins hohe Seniorenalter kümmern. Die Diakonie Neuendettelsau zählt mit ihren 7800 Mitarbeitern und einen Umsatz von 400 Millionen Euro im Jahr zu den größten deutschen Sozial-Unternehmen.

Was damals gang und gäbe war, ist seit vielen Jahren eine Last. Es passt hinten und vorne nicht mehr. Bewohner-Sprecherin Sarah Mayer ist von Geburt an auf einem großen Rollstuhl angewiesen. "Ich hatte so ein kleines Zimmer, ich konnte nichts aufstellen, wenn ich mit meinem Rollstuhl drin war", klagte die heute 43-Jährige der Ministerin ihr Leid. Jetzt ist alles gut, sagt sie, aber längst nicht für alle Bewohner. "Ich habe vor einem Jahr geheiratet", strahlt sie "und ich wechsle im nächsten Jahr mit meinem Mann ins begleitete Wohnen". Wenn alles gut geht, meint sie mit bangem Blick.

Anneliese Pirner wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von Amberg. Ihr 39-jähriger Sohn Florian ist seit vielen Jahren in Polsingen. Der mehrfach schwer behinderte Mann muss regelmäßig und intensiv gepflegt werden. "Hier ist er sehr gut aufgehoben", lobte sie das Engagement der Mitarbeiter, "wenn nicht die beengten Platzverhältnisse wären". "Wir brauchen eine wirkliche Verbesserung", mahnte sie die Ministerin.

Das war Wasser auf den Mühlen des Vorstands. Schon lange hat er die Dezentralisierung ihrer Hilfsangebote für Menschen mit Behinderung im Blick und treibt sie energisch voran. So entstand beispielsweise vor zwei Jahren in Gunzenhausen ein Wohnheim für 58 Bewohner. Konversion, also Umkehr von zentraler Unterbringung und Inklusion, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, heißen die Schlagworte, die die Diakonie Neuendettelsau mit Leben füllen will. Doch dafür brauchen sie Geld, und zwar richtig viel. Vorstandsmitglied Jürgen Zenker, zuständig für Dienste am Menschen, rechnet mit über 120 Millionen Euro in den nächsten Jahren. Die jetzigen Verhältnisse in Schlossanlagen wie Polsingen sind für die Zukunft nicht gerüstet. Menschen mit hohem Hilfebedarf, benötigen entsprechende Räumlichkeiten, beklagt er den Status quo.

Die Diakonie Neuendettelsau plant "einen hohes Investment hier und in der Region", sagt er an die Ministerin gewandt. Bislang sei die Förderung durch den Bezirk allerdings ausgeblieben. Er spricht von einem "enormen Stau in der Behindertenhilfe", die langfristig rund eine Milliarde Euro verschlingen wird. Die drei Säulen der Diakonie Neuendettelsau heißen Christlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Professionalität, sagte Vorstandschef Mathias Hartmann.

Ministerin besucht Polsinger Heime

Seine professionelle Führungskraft Roswitha Fingerhut stellte die Wirtschaftlichkeit der Einrichtung auf den Prüfstand. "So wie es jetzt teilweise aussieht, kann man nicht im Sinne der Betroffenen mehr arbeiten", stellte sie nach eingehender Prüfung fest. Die Menschen fühlten sich hier wohl, sie seien integriert, trotzdem sei die Dezentralisierung alternativlos. Möglichst ein städtisches Umfeld stellten sich die Verantwortlichen vor. Geplante Wohnplätze könnten in Merkendorf und Gunzenhausen entstehen. Andere Standorte wie Oettingen sollten einen Ersatzbau bekommen.

All das hörte aufmerksam die neue Sozialministerin. Sie ist keine Unbekannte in der Branche. Die studierte Diplom-Sozialpädagogin hat im früheren beruflichen Leben eine psychiatrische Einrichtung geleitet und sich zur Familientherapeutin weitergebildet. Zunächst einmal seien die Bezirke mit ihren Regierungen zuständig, aber klar sei auch, dass die notwendigen Mittel aus der Staatskasse kommen. Derzeit könnten nur rund ein Drittel aller Anträge gefördert werden. "Sie müssen schauen, dass sie ganz vorne dabei sind", riet sie den Verantwortlichen. "Und wir werden für Sie kämpfen", sagte sie und schaute dabei zu Manuel Westphal hinüber. Dieser nickte zustimmend.

Beim anschließenden Rundgang durch einige Wohnbereiche bekam die Ministerien die ganze Misere zu spüren. Hier passt kaum ein Rollstuhl durch, dort halten sich viel zu viel Menschen in viel zu kleinen Räumen aus. Die Mitarbeiter sind hochmotiviert, sie kümmern sich liebevoll um kleine und große Sorgen ihrer Schützlinge.

Das blieb der Kerstin Schreyer nicht verborgen: "Hier werden Menschen mit dem Herzen gesehen", sagte sie nach 90 Minuten und betonte noch einmal, dass jeder Mensch anders ist und anders behandelt werden will und muss. "Diesen Spagat müssen wir schaffen", sagte sie im Blick auf Inklusion und passgenaue Antworten. Dann rollte die schwarze Limousine vor, schön vorgekühlt, nochmals Hände schütteln, aufstellen zum Gruppenbild und weg war die Dame aus München. Zurück blieben Bewohner in den vielen Gruppen und Häusern, die hoffen, das eineinhalb Stunden am Ende etwas Gutes bewirkt haben.

 

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