Pilgerwanderung war „Abenteuer seines Lebens“

30.11.2012, 16:13 Uhr
Pilgerwanderung war „Abenteuer seines Lebens“

© Wolfgang Dressler

Dazu muss man feststellen, dass Kerkeling ein begüterter Pilger war, der gerne Hotels aufsuchte und dem das Wandern an sich nie richtig Spaß machte. Aus einem ganz anderen Holz ist Bülent Babayigit geschnitzt. Der Deutsch-Türke hat tatsächlich den kompletten Jakobsweg zurückgelegt, von Nürnberg bis nach Santiago de Compostela. Es war das Abenteuer seines Lebens, und in Gunzenhausen ließ er es nun Revue passieren.
Die Geschichte nahm im April dieses Jahres ihren Anfang. Bülent Babayigit, ein Moslem, und sein Freund Pino Fusaro, ein Christ, tauchten in Gunzenhausen auf und liefen Tassilo von Falkenhausen aus Wald und F.-Martin Steifensand aus Absberg über den Weg. Die beiden Pilger aus der Noris hatten sich viel vorgenommen, sie nannten das 3000 Kilometer entfernte Santiago als ihr Ziel und mussten doch einräumen, dass ihnen bereits die ersten Tagesetappen arg zugesetzt hatten. Das Wetter war schlecht, der Rucksack drückte schwer, die Schuhe waren im wahrsten Sinne des Wortes unpassend, und die Knie fingen an zu schmerzen. Die vier kamen schnell ins Gespräch, und Bülent Babayigit machte (auch in einem Bericht im Altmühl-Boten) deutlich, worum es ihm ging: Ein Muslim auf dem christlichen Jakobsweg als Botschafter von Frieden und Toleranz zwischen den Religionen. Am Nachmittag brachen die beiden Nürnberger Babayigit und Fusaro, ausgerüstet mit neuen Turnschuhen, in Richtung Heidenheim auf, und ihre neuen Bekannten empfanden Respekt und Sympathie und hatten doch Zweifel, ob dieses Wagnis tatsächlich gelingen würde.
An einem grauen Dezembertag sitzt Bülent Babayigit an einem Tisch des Cafés „Am Wehrgang“ und erzählt. Der Kontakt zu von Falkenhausen und Steifensand ist im Sommer und Herbst nie ganz abgerissen, und jetzt klären die drei im persönlichen Gespräch, was auf „3000 Kilometern in drei Monaten“ alles passiert ist. Zwei Stunden redet Bülent ohne Punkt und Komma, und als er endet, merkt er, dass er nur einen Bruchteil seiner Erlebnisse geschildert hat. Der 43-Jährige stellt fest, dass er, wie Hape Kerkeling es getan hat, auch ein Buch
schreiben müsste. Und ein Vortragsabend mit schönen Bildern wäre auch überlegenswert. Das könnte sich auch Tassilo von Falkenhausen gut vorstellen. Erst einmal will er „Ich bin dann mal weg“ lesen.
In Bülents Buch, sollte es je erscheinen, wird auf jeden Fall stehen, dass er finanziell zu naiv an das Projekt heranging. Er stellte sich vor, gegen Abend an die Tür von Pfarrhäusern zu klopfen und eine kostenlose, bescheidene Übernachtungsmöglichkeit zu bekommen, vielleicht auch etwas zu essen. Dem war nicht so. Deutschland jedenfalls erwies sich nicht als spendables Pilgerland. Bülent und Pino mussten in Gasthöfen und Hotels eine Unterkunft suchen, und das geht erfahrungsgemäß ins Geld. Pino, von Beruf Gastronom, war finanziell besser ausgestattet,  die beiden Pilger mussten keine Not leiden. Über das Kloster Neresheim ging es nach Ulm und Konstanz, dort grüßte die Schweiz, das nächste Ziel.
Dicker Knöchel und weniger Gewicht
Inzwischen hatte sich das Duo mehr und mehr an die körperlichen Strapazen gewöhnt. Dennoch litt Bülent unter einem stark angeschwollenen Knöchel, die Lage drohte kritisch zu werden. Dann sah er in einem griechischen Lokal frische Schnitzel und erinnerte sich, dass sie in solchen Fällen Wunder wirken können. Kurzentschlossen band er sich ein Schnitzel um den Knöchel, und in der Tat setzte eine baldige Heilung ein. Hier sei angemerkt, dass Bülent im weiteren Verlauf der 3000-Kilometer-Tour immer fitter wurde. Er nahm zehn Kilo ab, und schaffte Tagestouren von ungeahnter Länge. Er war in der Lage, auf Dauer ein hohes Tempo durchzuhalten, manchmal lief er bergab, statt zu gehen – einfach so, aus Spaß an der Freude. Als er einem Pilger aus den USA erzählte, dass er gerade 78 Kilometer (sein absoluter Rekord) hinter sich gebracht hatte, fragte dieser, wo denn sein Fahrrad stehe.
Zurück in die Schweiz: Bülent und Pino merkten bald, dass in Helvetien die Infrastruktur für Wanderer besser als in Deutschland ist. Die Schweiz ist teuer, aber das gastronomische Angebot sehr vielfältig, so kann man sich etwas Günstiges heraussuchen. Einmal jedoch konnten sie kein Zimmer auftreiben und sprachen in

ihrer Not eine Einheimische an. Die war einverstanden, ihnen eine Bleibe zu geben, stellte aber eine Bedingung: Wer bei ihr übernachtet, der muss einen Aerobic-Abend mitmachen. So geschah es denn auch.
Im Kloster Einsiedeln wollten die beiden Pilger aus Nürnberg gerne mit dem Abt sprechen, es reichte aber nur zu seinem Pressesprecher. Der Mönch war aber ausgesprochen nett und aufgeschlossen. Als sich noch eine buddhistische Sängerin hinzugesellte, war Bülent richtig glücklich. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass sein Wunsch, die großen Religionen sollten sich begegnen und ein klein wenig besser verstehen, Wirklichkeit werden könnte. Später, am Vierwaldstätter See (das Wetter war inzwischen viel besser geworden), ging ihm das Herz auf angesichts der Naturschönheiten. Sein Eindruck: „Hier hat der liebe Gott wirklich Überstunden gemacht.“ Einige Tage später überquerte das Duo die Sprachgrenze. Von nun an, in der französischsprachigen Schweiz, ging mit Deutsch nichts mehr.
Die Schweiz brachte aber auch Verluste. Pino Fusaro, eigentlich der Erfahrenere der beiden und mit dem Jakobsweg sehr vertraut, stieg, als es gegen Genf ging, aus. Er war diesmal seelisch nicht robust genug und bekam zudem Nachricht, dass sein Vater krank geworden war. Bülent jedoch bewies Durchhaltewillen. Das Handtuch zu werfen, kam nicht in Frage, dazu war er zu ehrgeizig, zu stolz und zu euphorisch. Er meisterte schwierige, gefährliche Bergetappen, musste hin und wieder feststellen, dass er gewaltig in die Irre gegangen war, setzte aber entschlossen seinen Weg fort.
Dann 1150 Kilometer quer durch Frankreich, an Lyon vorbei nach Le-Puy-en-Velay und Cahors und schließlich nach St.-Jean-Pied-de-Port am Fuß der Pyrenäen, wo einst Hape Kerkeling seinen Marsch begann. Bülent musste feststellen, dass die französischen Schilder am Jakobsweg sehr verwirrend sind. Dort steht auch, wohin man nicht gehen soll. Es dauerte seine Zeit und führte zu einigen Umwegen, bis der Mann aus Franken das System verstand. Er machte außerdem die Erfahrung, dass er auf der Strecke ein ewiges Bergauf und Bergab aushalten musste. Des Weiteren fiel ihm auf, dass die Franzosen gerne gegen Abend die Läden und Cafés dichtmachen und sogar Hotels in diesem Sinne betreiben. Seine Vorstellung, dass er in vitale Orte mit vielen Menschen einziehen würde, erwies sich des Öfteren als Irrtum. Der Süden und Südwesten Frankreichs sind dünn besiedelt, und die „Geisterdörfer“, die weitgehend oder ganz frei von Menschen sind, machen einen tristen Eindruck.
Andererseits beschreibt Bülent Frankreich als den schönsten Teil seiner Reise. Mehr und mehr Journalisten wollten mit ihm sprechen, und ihre Berichte, sei es gedruckt oder im Rundfunk, machten ihn bekannt. Der türkische Muslim aus Deutschland, der den Koran im Pilgerrucksack hatte, wurde zu einem kleinen Medienstar, der viele Pressetermine wahrnahm. Die Franzosen erwiesen sich als gute Gastgeber, die dafür in vielen Fällen gar kein Geld verlangten. Es gab jede Menge Schulterklopfen und Zuspruch. Einmal verhielten sich überzeugte Christen zunächst skeptisch, dann aber brach das Eis, und es entstanden wunderbare Gespräche. Auch Atheisten unterstützten den Pilger. Doch nicht alles war eitel Sonnenschein. Auf Facebook wurden kritische Stimmen laut über den muslimischen Pilger auf dem Jakobsweg. Was das Ganze überhaupt solle, wurde gefragt.
Türkische Marschlieder
Eine große Hilfe waren ihm auf den endlosen französischen Wegen seine Armeestiefel: „Sie taugten.“ Bülent hatte in der türkischen Armee seinen Wehrdienst abgeleistet. Auf einsamer Strecke begann er, Soldatenlieder zu singen. Als er einem Japaner begegnete, sang dieser plötzlich die türkischen Lieder mit. Des Rätsels Lösung: Der Japaner hatte eine Zeit lang in Istanbul gelebt.
Über den letzten Teil der Strecke in Spanien hat Bülent erstaunlich wenig zu erzählen. Die Pyrenäen waren schnell überwunden. Die weitere Route war oft unattraktiv und eintönig, führte an Schnellstraßen entlang. Nur Galizien gefiel durch seine schöne Landschaft. In Behörden und Banken fühlte sich der Wanderer ohne Spanischkenntnisse verloren und abgewiesen – bei den Franzosen, denen doch auch ein starkes Nationalgefühl nachgesagt wird, war das ganz anders gewesen. Die Pilgerherbergen in Spanien sind zahlreich und billig, und doch spricht Bülent von „Abzocke“. Für jedweden Zusatzdienst wurde man zur Kasse gebeten, sogar für heißes Wasser, um sich einen Tee zu kochen. Über die strengen Regeln in den Klosterherbergen, denen sich die Pilger ohne zu murren unterwarfen, konnte sich Bülent nur wundern. Er rückte in diesen letzten Wochen auch in den Fokus der Madrider Tageszeitung „El Pais“. Sogar in Mexiko erschien über ihn ein Artikel. So ganz nebenbei lernte er in Spanien auch eine Frau kennen, die Charles Darwin zu ihren Vorfahren zählt ...
Je näher Santiago rückte, desto mehr empfand der Nürnberger den Jakobsweg als Rummelplatz mit Menschenmassen, Partystimmung und Alkohol. Doch auch bei ihm kamen natürlich Glücksgefühle auf, als er am 2. Juli die berühmte Kathedrale im Zielort erblickte. Dort war es mit dem Wandern genug. Die allerletzte Strecke, zum Kap Finisterre am Atlantik, absolvierte er mit dem Bus.
Was bleibt? Bülent Babayigit hat gemerkt, dass die meisten Mitpilger den Weg problembeladen antraten. Sie suchten Erlösung, wollten sich geradezu kasteien. Er selbst ging die Sache lockerer an, wollte die Reise genießen und tat es auch. Er machte die Erfahrung: „Alle Wege führen zu Gott. Zeitweise fühlte ich mich inspiriert und brach vor Freude in Tränen aus, einfach so.“ Dass er durchgehalten hat, führt er auch auf die Erkenntnis zurück, dass man sich manchmal im Leben nicht zu viele Gedanken machen darf: Also immer wieder losgehen, die schönen Stunden auskosten, die Momente der Verzweiflung, die es auch bei ihm gab („Was mache ich überhaupt hier?“), mit Fassung ertragen. In seinen dunkelsten Stunden hatte er überhaupt kein Geld mehr und musste sich als Bettler betätigen. Freunde von Pinot halfen ihm finanziell wieder auf die Beine.
Ein klein wenig verzieht Bülent das Gesicht, wenn er auf die Deutschen zu sprechen kommt. Dass er und sein Gefährte in Ulm wie Landstreicher behandelt wurden, mit denen man kein Wort sprechen sollte, war ärgerlich. Auch dass deutsche Mitpilger, denen er in Spanien im Laufe der Tage  mehrmals begegnete, unschöne Kommentare von sich gaben („Unkraut vergeht nicht“ – „Wenn man vom Teufel spricht, dann kommt er“), stieß ihm sauer auf, und er sagte diesen Spöttern schließlich gehörig die Meinung. Er traf aber auch Deutsche mit Anstand und Bildung, mit denen gut auszukommen war und die er als sehr angenehm empfand.
Wie es jetzt mit ihm weitergeht, weiß Bülent Babayigit noch nicht so genau. Ob es eine normale bürgerliche Existenz sein wird, lässt er offen. An einem Schreibtisch kann man sich ihn kaum vorstellen. Sicherlich wird seine Freundin in dieser Hinsicht einiges mit zu entscheiden haben. In letzter Zeit versuchte der 43-Jährige sein Glück als Model. Man darf gespannt sein, wohin sein Lebensweg führen wird. Er liebt eben die Herausforderung.

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