Thomas Medicus stellt in Gunzenhausen neues Buch vor

24.9.2016, 07:23 Uhr
Thomas Medicus stellt in Gunzenhausen neues Buch vor

© StadtarchivGunzenhausen

Dem Gunzenhäuser Stadtarchivar war die historische Bedeutung der Bilder, die ihm ins Rathaus gebracht wurden, sofort klar — und er wollte mehr. Das merkte allerdings auch der professionelle Wohnungsauflöser, der die Sammlung in einem alten Schuppen gefunden hatte, und so dauerte es rund ein Jahr, bis die Stadt Gunzenhausen alle Negativplatten und Rollfilme ihr Eigen nennen konnte. Knapp 2500 Papierabzüge liegen mittlerweile geordnet im Stadtarchiv und sind ein unschätzbarer Fundus und Bildzeugnis einer Zeit, in der sich Gunzenhausen beileibe nicht mit Ruhm bekleckert hat.

Doch die Altmühlstadt stellt sich diesem dunkelbraunen Fleck auf ihrer Weste „vorbildlich“, das betonte Bürgermeister Karl-Heinz Fitz und bestätigte auch BR-Journalist Dirk Kruse, der die Gesprächsrunde mit den Autoren Mühlhäußer, Linda Conze und Thomas Medicus, der auch Herausgeber des historischen Sachbuchs ist, in der Stadthalle moderierte. Da könne sich, so Kruse, so manche Stadt eine Scheibe von abschneiden.

Ein Baustein in dieser Vergangenheitsbewältigung ist eben auch die wissenschaftliche Aufarbeitung der Fotosammlung Biella, die von der Stadt in vollem Umfang unterstützt wurde. Thomas Medicus dankte denn auch in der Stadthalle explizit für die hervorragende Zusammenarbeit. Mitfinanziert wurde die Forschungsarbeit auch von dem von Jan Philipp Reemtsma gegründeten Hamburger Institut für Sozialforschung.

Zeugnis der Teilhabe

Medicus war bereits im Rahmen der Recherche für seinen Roman „Heimat“ von Mühlhäußer auf die Biella-Bilder aufmerksam gemacht worden. Als der aus Gunzenhausen stammende und heute in Berlin lebende Autor die Fotobände erstmals durchblätterte, war er „total schockiert“. Mit der Teilhabe eines so großen Teils der Kleinstadtgesellschaft an der NS-Zeit hatte er nach eigenen Worten nicht gerechnet. Die Fotos von Curt und Wilhelmina Biella, später auch den beiden Töchtern Olga und Vera, dokumentieren dieses Mitmachen in erschreckendem Ausmaß.

Von einem „kollektiven Bildgedächtnis“ sprach denn auch die Historikerin Linda Conze, zu deren Forschungschwerpunkten die Fotografiegeschichte zählt. Für ihre Promotion an der Berliner Humboldt-Universität suchte sie große Fotobestände und versandte eine ganze „E-Mail-Lawine“ an Stadtarchivare. Von Mühlhäußer bekam sie eine positive Antwort.

Thomas Medicus stellt in Gunzenhausen neues Buch vor

© Marianne Natalis

Das Besondere an der Biella-Sammlung ist laut Linda Conze, dass die Fotografien „einen Zeitraum abdecken, der über 1933 und 1945 hinausgeht“. So lassen sich die Übergänge erkennen. Und die waren alles andere als plötzlich und unerwartet, es gab 1933 keine „Zäsur“. Gerade in Franken begann der Prozess bereits 1918. Die Provinz, zu diesem Schluss kommt Thomas Medicus, ist denn auch die eigentliche „Machtbasis“ der Nazis. Und Gunzenhausen kein Einzelfall. Die Stadt steht deshalb in diesem historischen Sachbuch „stellvertretend für ganz viele Kleinstädte und wie sie mit dem Nationalsozialismus verbandelt waren“, erläuterte Moderator Kruse.

Die Fotografie wurde ab den 1920er-Jahren zu einem Massenmedium, erläutert Linda Conze. Und zu einem wichtigen zeitgeschichtlichen Dokument. Interpretierbar allerdings nur, solange man den historischen Kontext, in denen sie entstanden sind, kennt. Die Fotografien der Biellas können eindeutig zugeordnet werden und zeigen vor allem, wie nicht zuletzt dank der Aufnahmen die teils sehr großen Veränderungen unter der Naziherrschaft durch ständige Abbildung normalisiert wurden.

Die Biellas hatten in den 1920er-Jahren finanziell eher schwere Zeiten durchgemacht, dem Aufkommen der Nazis begegneten sie aber mit „großem wirtschaftlichen Gespür“, wie ihnen Werner Mühlhäußer bescheinigte. Sie verstanden es geschickt, ihre Fotos aus dem öffentlichen Raum, etwa über den Altmühl-Boten, zu vermarkten.

Einzug in den Alltag

Wie der Nationalsozialismus immer mehr in den Alltag Einzug hält, lässt sich an zahlreichen Aufnahmen nachvollziehen. Ein gutes Beispiel ist für Medicus der 1935 verstorbene Bürgermeister Dr Heinrich Münch. Das erste Bild, entstanden vor der Machtergreifung, zeigt ihn in bürgerlichem Outfit mit Krawatte, Einstecktuch und schütterem, aber doch noch Haar auf dem Kopf. Mehr oder weniger kahlgeschoren und in SA-Uniform, entsteht von demselben Mann ein ganz anderes, viel martialischeres Bild.

Ein Familienfoto vor dem neuen Hitlerdenkmal — dem ersten übrigens in Deutschland — wurde schick, und auffallend dabei ist, dass Männer sich ab 1933 quasi nur noch in Uniform abbilden ließen. Anfänglich wurde dieses „Kostüm“ laut Linda Conze noch voller Stolz getragen. Das änderte sich vor dem Hintergrund des Kriegs, der auch in Gunzenhausen immer realer, dessen Auswirkungen spürbarer wurden.

Keinerlei Bildmaterial, merkte Kruse erstaunt an, fand sich übrigens zum blutigen Palmsonntag im Jahr 1934 und der Reichspogromnacht im November 1938 in der Biella-Sammlung. Ob nie vorhanden, bewusst zerstört oder verlorengegangen, das lässt sich nicht mehr nachvollziehen, betonten die Autoren. Die 2500 erhaltenen Fotos aber, davon geht Medicus aus, sind sicher nur ein Bruchteil der Arbeit aus 70 Jahren Fotostudio.

Denn das Atelier Biella schloss erst 1988 seine Pforten. Nach dem Krieg machten die drei Frauen – Curt Biella war bereits 1938 überraschend verstorben — nahtlos weiter. Nur wurden jetzt amerikanische Soldaten fotografiert.

Thomas Medicus (Hg.): „Verhängnisvoller Wandel. Ansichten aus der Provinz 1933–1949: Die Fotosammlung Biella. Hamburger Edition, 308 Seiten, 38 Euro, ISBN 978-3-86854- 302-5.

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