Flüchtlingsfrage: Zuwanderung als Chance begreifen

12.2.2016, 14:34 Uhr
Flüchtlingsfrage: Zuwanderung als Chance begreifen

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Jürgen Ganzmann ist Optimist. Aber er hat Schmerzen, zumindest im übertragenen Sinne. „Die Hilflosigkeit der Politik tut mir weh“, sagt der Geschäftsführer der WAB Kosbach, die seit Mai 2014 Asylbewerbern in Höchstadt, Adelsdorf und Erlangen einen Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht. Sie erlernen zunächst in einer finanzierten Beschäftigungsmaßnahme Deutsch, Teamfähigkeit und handwerkliche Fertigkeiten. Das Bundesumweltministerium hat das Projekt jüngst in Berlin mit einem Preis ausgezeichnet.

Das hat Ganzmann auf die Idee gebracht, seine Erfahrungen in Erlangen-Höchstadt in einem Brief mit Angela Merkel zu teilen. „Wir haben die Möglichkeit, die Zuwanderung positiv oder negativ zu gestalten“, schreibt er. Und: „Der Wohlstand in Deutschland kann nur durch Zuwanderung erhalten bleiben.“ Dabei denkt er an die demografische Entwicklung, an Altersarmut, an die anstehende Überforderung der Sozial- und Rentensysteme und an den Fachkräftemangel, zum Beispiel in der Pflege.

Wenn die Integration gelingt, könne die Ankunft der Flüchtlinge wirken wie ein „inländisches Konjunkturprogramm“, unter anderem durch die steigenden Einnahmen bei der Mehrwertsteuer. Deutschland als „Altenheim der Welt“ könne profitieren, zumal die aktuelle Vollbeschäftigung eine gute Voraussetzung biete für die Integration.

Lähmende Bürokratie

Aber, sagt er: „Bürokratie kann auf Notsituationen überhaupt nicht mehr reagieren.“ Die langen Wartezeiten bei der Bearbeitung der Asylanträge befördere Unzufriedenheit. Außerdem meint er: „Die Stimmungsmache im Land ist eine Katastrophe.“

Viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die die WAB Kosbach in Adelsdorf dezentral untergebracht hat, hätten inzwischen massive Ängste — entstanden durch Fernsehsendungen, Internet und Mundpropaganda. Auch Pöbeleien auf der Straße habe es schon gegeben. „Die Nachbarn in Adelsdorf kommen aber gut mit den Bewohnern zurecht.“

Verantwortung einfordern

Ganzmann betont im Brief, die soziale Verantwortung der Flüchtlinge müsse eingefordert werden, zum Beispiel durch die Übernahme von 1-Euro-Jobs. Da gebe es in der WAB positive Beispiele, die bei der Preisverleihung in Berlin gewürdigt worden seien.

Und er hat auch eine schlichte und praktische Idee. Warum nutzen die Behörden im Umgang mit den Flüchtlingen nicht die „Leichte Sprache“?, fragt er sich. Diese spezielle Form des Deutschen zielt auf einfache Verständlichkeit ab und arbeitet viel mit Piktogrammen und Symbolen. So ließen sich auch komplexe Dinge wie das Grundgesetz, die Gleichheit von Mann und Frau oder die Mülltrennung erklären. „Man muss sich immer nur vorstellen, man selbst käme in ein arabisches Land — ohne Sprache oder Kultur zu verstehen. Da braucht jeder Hilfe.“ Grammatikalische Fragen wie Genitiv oder Dativ spielten dabei keine Rolle. Also müsste auch das Schulsystem die Möglichkeit bekommen, flexibler zu reagieren.

Um die Flüchtlinge in Arbeit zu bringen, müssten die Sparten bedient werden, in denen Mangel herrscht: Pflege, Gastronomie, Handwerk. „Dann nimmt auch niemand dem anderen die Jobs weg“, sagt Ganzmann. Im Brief an die Kanzlerin schreibt er: „Es ist notwendig, dass die Behördenstruktur reformiert und an die menschliche Not angepasst wird.“ Im Landkreis Erlangen-Höchstadt klappe die Zusammenarbeit gut, aber auf höheren Ebenen behinderten sich die Ämter gegenseitig. „Auf der anderen Seite agieren ehrenamtliche Helfer am Rand der Erschöpfung.“ Politische Maßnahmen seien dringend nötig. „Wir wünschen ihnen viel Kraft für diese Aufgabe“, schließt Ganzmann den Brief. CLAUDIA FREILINGER

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