Kind im sicheren Hafen

23.10.2014, 18:38 Uhr
Karl Heinz Brisch

Karl Heinz Brisch

Herr Brisch, wissen Sie, was Kinder brauchen?

Karl Heinz Brisch: Wenn wir von der internationalen Forschung ausgehen, sind es natürlich die physiologischen Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlaf oder Wärme — aber auch Schutz vor negativen Reizen, Anregung, Sicherheit und Bindung.

Bindung ist das zentrale Thema Ihrer Forschung...

Brisch: ... ja, denn eine gute Bindung legt die Grundlage für viele positive Entwicklungen – emotional und kognitiv, sprich im Gehirn. Kinder, die bis zum Alter von drei Jahren eine gute Bindung aufbauen konnten, sind später zum Beispiel besser darin, schwierige Situationen zu meistern. Sie sind stressresistenter, kreativer, flexibler und können sich schon im Kindergartenalter gut in die Gefühle und Gedanken, aber auch Handlungsabsichten anderer hineinversetzen.

Und wie schaffen es die Eltern, eine gute Bindung zu Sohn oder Tochter aufzubauen?

Brisch: Sie sollten sehr feinfühlig die Bedürfnisse des Kindes erkennen. Das ist nicht immer einfach. Die Eltern müssen zum Beispiel beim Säugling aus dem Weinen das Richtige herausrätseln und vor allem auch entsprechend reagieren. Das heißt zum Beispiel nur stillen, wenn das Kind hungrig ist und nicht, wenn es sich langweilt. Und wer Bindungsperson Nummer eins werden will, sollte sein Kind nicht unbedingt schon nach sechs Wochen in die Krippe geben.

Warum?

Brisch: Eine Mutter sollte nicht glauben, dass es biologisch automatisch vorgegeben ist, dass sie die Hauptbezugsperson ist. Sie muss schon auch entsprechend mit dem Kind umgehen und gemeinsame Zeit dazu haben. Nach einem Jahr ist die Bindung dann meist sehr spezifisch. Sie kann sich auch auf andere Bezugspersonen ausweiten, wenn zum Beispiel auch der Vater sehr präsent ist oder die Tagesmutter. Und Menschen sind an sich sehr flexibel angelegt, das heißt natürlich kann auch eine Erzieherin in der Krippe zur festen Bezugsperson werden.

Wie stehen Sie denn zur Krippenbetreuung an sich? Viele Eltern haben ja gar nicht mehr die Möglichkeit, lange Zeit aus dem Job auszusteigen...

Brisch: Es kommt ganz auf die Qualität an. Der Gang in die Krippe sollte bedeuten, dass das Kind von einem sicheren Hafen in den nächsten kommt. Dazu muss schon mal mindestens gewährleistet sein, dass bei der Eingewöhnung jeden Morgen die gleiche Person das Kind übernimmt. Leider ist die Krippenqualität in Deutschland nicht immer so gegeben, wie es sein sollte. International hat sich gezeigt, dass eine Erzieherin maximal drei Kinder betreuen sollte. Wir haben meist einen Schlüssel von 1:6 oder mehr, das ist natürlich viel zu wenig. In Deutschland ist manches Einzelkind zwar ein begehrtes narzisstisches Ausstellungsstück, aber wenn es wirklich um entscheidende Entwicklungen geht, stehen oft die Interessen der Erwachsenen im Weg.

Wie zeigt es sich, wenn ein Kind unter mangelnder Bindung leidet?

Brisch: Die Kinder sitzen oft still in der Ecke und stören nicht, aber sie haben Angst. Andere wiederum wenden sich an jeden, der vorbeikommt auf der Suche nach Kontakt. Die Defizite für die emotionale und auch für die Gehirn-Entwicklung lassen sich zwar später mit viel Mühen und Therapien wieder teilweise beheben, aber es könnte so viel einfacher sein, wenn wir in frühen Jahren mehr auf die Bindung achten. Wir sollten nicht nur in Sonntagsreden die Entwicklung der Kinder in den Mittelpunkt stellen.

 

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