Langstock und Lupe für den Weg aus der Isolation

29.5.2016, 06:00 Uhr
Langstock und Lupe für den Weg aus der Isolation

© Ralf Rödel

„Der Langstock ist eines der wichtigsten Hilfsmittel“, erklärt Annette Batz und zeigt auf verschiedene Exemplare, die zusammengefaltet wie Zeltstangen vor ihr auf dem Tisch liegen. Ihn richtig zu handhaben, ist der Schlüssel zur Mobilität für Menschen, die ihre Umgebung nicht mit den Augen erkunden können. Die Rehabilitationslehrerin will mir zeigen, wie sie blinde und sehbehinderte Menschen mit dem Langstock vertraut macht.

Mit Hilfe einer Augenbinde versetze ich mich in die Situation von Batz’ Klienten. Das nimmt mir jegliche Sicht. Schon nach ein paar Sekunden wird klar: Mit dem Augenlicht verschwindet innerhalb kürzester Zeit auch der Orientierungssinn. „Für blinde Menschen ist das eines der größten Probleme“, bestätigt Annette Batz. Instinktiv laufe man nämlich immer geradeaus. Für gewollte Richtungswechsel sind deshalb Hilfsmittel nötig. Ein mechanischer Kompass mit Markierungen in Braille-Schrift sei leider nicht mehr im Handel, aber Kompass-Apps fürs Smartphone, die über eine Vorlesefunktion verfügen, leisteten ebenso gute Dienste.

Um mich im vertrauten Redaktionsflur zu orientieren, brauche ich die allerdings nicht. Annette Batz legt mir stattdessen den Langstock in die rechte Hand und erklärt die richtige Haltung: Zeigefinger auf die abgeflachte Seite des Griffs, Unterarme anwinkeln wie beim Händeschütteln und den Arm vor die Körpermitte führen. Der Langstock mit seiner beweglichen Spitze – je nach Modell eine Kugel oder ein kleines Rad — gleitet auf diese Weise dann fast automatisch hin und her. „Sehr schön“, lobt die Rehalehrerin mit Blick auf die leichte Pendelbewegung. Die ist wichtig. Damit spürt der Langstock Hindernisse auf.

Das erste erwarte ich bereits: Eine Stufe in der Mitte des langen Korridors. Ich taste mit Stock und Fußspitzen, doch die Stufe kommt nicht. Das Gefühl für Entfernungen — ohne visuelle Orientierungspunkte ist es mir einfach verloren gegangen. Andere Sinne können dafür einspringen, wenn sie entsprechend geschärft werden, beruhigt Annette Batz und erklärt die Technik der Echolokation: „Gleich werden Sie hören, dass der Raum offener wird“. Und richtig: Die dumpfen Geräusche im engen Flur verändern sich, der Hall wird stärker, die Stimmen der Kollegen aus den angrenzenden Zimmern dringen lauter herüber. Ich weiß: Nun erreiche ich den offenen Eingangsbereich, doch dafür muss ich mich um 90 Grad nach rechts wenden. Hektisch rudere ich mit dem Langstock umher, suche den Kontakt zur Wand. Der leere Raum gibt keinen Halt. Leichte Panik kommt auf. „Schultern locker lassen“, mahnt Annette Batz.

Zum Glück schlägt der Stock ans Mauerwerk, der Richtungswechsel ist geschafft. Hätte es auch auf unbekanntem Gelände funktioniert? „Das wird bei der Planarbeit immer wieder geübt“, erklärt die Rehalehrerin. Auf einer eigens angefertigten Magnettafel legt sie mit Stäbchen den Verlauf von Wegen oder Kreuzungen. Ihre Klienten ertasten das Relief und erstellen daraus ihre „Karte im Kopf“.

Bis solche Techniken eingeübt sind, kann viel Zeit vergehen. Bei völlig erblindeten Menschen nimmt die Schulung, die nach einem individuell erstellten Plan durchgeführt wird und aus vielen Bausteinen besteht, bis zu eineinhalb Jahre in Anspruch. Die Kosten dafür übernehmen Versicherungsträger wie etwa Krankenkassen oder die Rentenversicherung.

Ihre eigene anspruchsvolle Weiterbildung zur Rehabilitationslehrerin für Blinde und Sehbehinderte hat die 30-Jährige dagegen selbst tragen müssen. Doch sie habe damit ihren Traumberuf gefunden, sagt die gelernte Augenoptiker-Meisterin, die dafür extra nach Hamburg gezogen ist, wo eine der bundesweit nur zwei Ausbildungsstätten für Rehalehrer ihren Sitz hat. Konkurrenz muss die seit einem Jahr Selbstständige nicht fürchten, denn die Liste der Kolleginnen und Kollegen ist kurz. Deshalb ist Batz in ganz Nordbayern unterwegs, um Klienten aller Altersgruppen in deren gewohntem Umfeld zu schulen.

Im Rahmen ihrer Ausbildung musste die aus Hemhofen stammende junge Frau, die sich nach ihrer Rückkehr aus Hamburg vor einem Jahr in Höchstadt niedergelassen hat, das Nicht- oder Schlecht-Sehen-Können oft genug im Selbstversuch erproben. Deshalb weiß sie genau, wann Hilfestellung nötig ist. Beim Treppensteigen lässt sie mich nicht mit dem Langstock allein, sondern geht zur „sehenden Begleitung“ über. Fest am Arm der jungen Frau untergehakt, muss ich nur ihren Bewegungen folgen. So lässt sich Stufe für Stufe sicher bewältigen — sogar abwärts.

Sicherheit und Selbstständigkeit — das ist es, was Annette Batz den Menschen wiedergeben will. „Wenn mir jemand erzählt, dass er wegen seiner Einschränkungen seit Jahren das Haus nicht mehr verlassen hat, dann ist das ganz schlimm“, sagt sie. Deshalb kämpft sie darum, dass der Langstock nicht als Stigma angesehen wird, sondern als ganz selbstverständliches Hilfsmittel wie eine Brille oder ein Hörgerät. Gerade wenn noch ein Rest an Sehvermögen vorhanden sei, könne der Langstock viele Defizite ausgleichen — etwa beim Ein- oder Aussteigen aus dem Bus.

Es gibt noch weitere kleine Helfer wie Lupen und Lesegeräte, mit denen sich Hürden für Sehbehinderte abbauen lassen. Im öffentlichen Raum grenzt dagegen so manche Maßnahme für Barrierefreiheit Blinde und Sehbehinderte eher aus. „Die Bordsteinkante, die für Rollstuhlfahrer zum Hindernis wird, hilft Blinden und Sehbehinderten bei der Orientierung“, führt Batz als Beispiel an. Bei barrierefrei eingeebneten Flächen müssten deshalb „taktile Leitlinien“ eingebaut werden, die der Langstock ertasten könne.

„Ganz schlimm sind auch Elektroautos“, gibt die Rehalehrerin zu bedenken. Die geräuschlos herannahenden Ökofahrzeuge stellen für Blinde und Sehbehinderte eine große Gefahr da, auf die der Fachverband DBSV seit Jahren aufmerksam macht. Auch Annette Batz betreibt Aufklärungsarbeit, engagiert sich bei Aktionen wie der „Woche des Sehens“, besucht Schulen und macht nicht zuletzt Ärzte und Optiker auf die bestehenden Schulungsangebote aufmerksam. Nicht zu Werbezwecken, sondern um den Betroffenen die ganze Palette der vorhandenen Möglichkeiten aufzuzeigen. Sie möchte Blinde und Sehbehinderte aus ihrer Isolation herausholen und dabei unterstützen, wieder eigenständig am Leben teilzuhaben. Aus Überzeugung und Erfahrung weiß sie: „Man kann noch so viel herausholen“.

http://www.langstockschulung.de

http://www.rehalehrer.de

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