Sektenkinder: Bürgermeister fühlt sich machtlos

30.10.2012, 07:30 Uhr
Sektenkinder: Bürgermeister fühlt sich machtlos

© WDR

Seit Tagen mache er nichts anderes mehr, als zu telefonieren, sagt Link. Im Beitrag geht es um die Sekte „Neue Gruppe der Weltdiener“, die im Markt Lonnerstadt lebt. Sie besteht aus einem Guru, seiner Lebensgefährtin und einer Familie mit drei Kindern. Letztgenannte wohnen in einem heruntergekommenen Haus in Lonnerstadt. Es ist zugig. Im Bad gibt es weder eine Badewanne noch eine Dusche. Nur ein Raum werde mit einem Ofen beheizt. Statt Spiel und Spaß steht Meditieren auf dem Programm. Und das bereits um vier Uhr morgens. Auch die Kinder sind nicht davon befreit. Denn in Kinderkörpern würden erwachsene Seelen wohnen, heißt es in dem Beitrag. Kinder sollten nicht spielen, sondern an der Seele arbeiten.

Haringke Fugmann, Landeskirchlicher Beauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für religiöse und geistige Strömungen, erklärt gegenüber der NZ: „Die religiöse Gruppierung ,Neue Gruppe der Weltdiener‘ steht aus religionswissenschaftlicher Sicht in der Tradition der sogenannten Arkanschule, die auf eine Alice A. Bailey zurückgeht. Baileys weltanschaulicher Hintergrund ist die Theosophie.“ Die Mitglieder der Gruppe würden sich als eine Art Mittler zwischen hohen, gleichsam überweltlichen Meistern und Menschen verstehen. Ein wichtiger Aspekt sei unter anderem das selbstlose Dienen. „Wichtig ist auch die Vorstellung, dass allen Menschen eine quasi göttliche Natur innewohnt.“

Der WDR-Film hat die Menschen aufhorchen lassen. In Lonnerstadt fand am Freitag eine Mahnwache vor dem Haus der Familie statt. Und viele fragen sich, warum niemand eingreife? Bürgermeister Theodor Link betont, dass er nur die „Umstände“ gestalten könne, aber keine rechtliche Handhabe besitzen würde. Damit die fünfköpfige Familie nach einer Zwangsräumung nicht obdachlos werde, habe man sie in dem Haus untergebracht. Seit August 2009 wohnen sie dort. Die Alternative, sagt Link, wäre ein Container gewesen, „wo man nur Anspruch auf ein paar Quadratmeter pro Person hat“. Zwischenzeitlich wurde der zweite Kamin erneuert. Ein zweiter Ofenanschluss sei möglich. Darüber hinaus, erzählt Link, gäbe es im Bad und in der Küche zwei elektrische Heizlüfter. Die Gemeinde könnte zwar anbieten, das Haus herzurichten, aber die Familie würde dies nicht wollen. Sie verzichtet auf materielle Ansprüche.

Immer wieder, erzählt Link, habe er beim Jugendamt nachgebohrt. Der Grundtenor sei immer gewesen: Das Kindeswohl werde nicht als gefährdet angesehen. „Die Behörden können nur dann eingreifen, wenn Gefahr im Verzug ist, wenn also eine akute Gefährdung vorliegt“, erklärt Fugmann. „Im vorliegenden Fall können wir von Glück sagen, dass die Kinder eine Schule besuchen. So haben Lehrer, Lehrerinnen und andere Außenstehende die Möglichkeit, nach den Kindern zu schauen.“

Einmal ist Link selbst eingeschritten, nämlich als die Kinder im Winter bei Minustemperaturen mit dem Fahrrad in den Ortsteil Ailsbach zum Meditieren fuhren. Da habe Link selbst mit dem Guru und den Eltern gesprochen. Seit einiger Zeit fahre nur noch der Vater. „Wir können nicht mehr machen, als der Familie ins Gewissen zu reden.“ Andere Gespräche mit den Eltern verliefen ergebnislos. So habe Link der Mutter vorgeschlagen, nach dem Ende der Elternzeit zumindest wieder in Teilzeit als Gymnasiallehrerin zu arbeiten.

In einer Mitteilung Ende vergangener Woche teilte das Landratsamt Erlangen-Höchstadt mit: „Es besteht seit langem ein engmaschiger Kontakt sowohl zu den Kindern als auch zur Familie und dem sozialen Netz, insbesondere zu den Schulen.“ Landrat Eberhard Irlinger betonte darin: „Die Kinder befinden sich bezogen auf ihre körperliche und gesundheitliche Situation in einem normalen Entwicklungszustand, auch ihr Ernährungszustand ist vollkommen normal.“ Ein unabhängiges gerichtspsychologisches Gutachten soll erstellt werden.

Nachfragen unserer Redaktion, ob es nach der Kritik am Jugendamt weitere Maßnahmen bezüglich der Familie geben werde – ob etwa nun noch mehr kontrolliert werde – blieben gestern unbeantwortet. Das Landratsamt verweist auf ein Pressegespräch am Mittwoch mit Irlinger. „Alle aktuellen Fragen werden in diesem Gespräch beantwortet“, heißt es.

Unterdessen interessiert sich nun auch die SPD-Fraktion im Kreistag für die Sektenkinder. In einem Schreiben an Landrat Irlinger wird „die unverzügliche Berichterstattung an die Mitglieder des Jugendhilfeausschusses und an die Fraktionsvorsitzenden zu den Vorkommnissen in Ailsbach“ erbeten. „Wir bitten außerdem, die Einberufung einer dringlichen Sondersitzung des Jugendhilfeausschusses oder des Kreistages zu überprüfen.“

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