Überzeichnet, doch aus dem Leben gegriffen

31.7.2018, 16:04 Uhr
Überzeichnet, doch aus dem Leben gegriffen

© Foto: Christian Enz

Manchmal sind die Wege des Herren unergründlich – aber, wie in diesem Fall, nachvollziehbar. So führte im Jahr 1978 eine zufällige Begegnung zwischen zwei Studenten zu einer lebenslangen Freundschaft. Einer von ihnen, Thomas Rust, ist heute Pastor in Glücksburg. Der andere ist Höchstadts evangelischer Pfarrer Hans-Friedrich Schäfer. Als dieser davon erfuhr, dass sein Studienkollege mit einem Jugendprojekt auf Deutschland-Tour gehen wollte, zögerte er nicht lange und lud das Kikuyu-Ensemble an die Aisch ein.

Bereits seit 16 Jahren engagieren sich Kinder und Jugendliche der evangelischen Kirchengemeinde Glücksburg in einer Initiative, dem Kikuyu-Projekt. Neben den erfahrenen Chorleitern Lukas Petersen, Leah Ilchmann und Indra Schlüter steht in der Christuskirche die 18-jährige Lotti Andresen am Dirigenten-Pult. Mit vollem Körpereinsatz steuert sie zuverlässig den stattliche, 40 Köpfe zählenden Jugendchor durch die knapp zweistündige Aufführung.

Der Jugendchor bildet das Rückgrat des Musicals "Armes Deutschland?" Entwickelt wurde diese von den Jugendlichen selbst. "Natürlich stehe ich beratend zur Seite und treffe mich einmal in der Woche mit den Gruppenleitern", erzählt Thomas Rust. "Aber inhaltlich wird – von der Themenauswahl bis zur Umsetzung – weitgehend selbstständig gearbeitet". Dies muss auch so sein. Denn anders als in Bayern gibt die Evangelische Kirche in Norddeutschland kaum Geld für Jugendarbeit aus – die Gemeinden sind auf sich allein gestellt. "Deshalb gibt es auch kaum Jugenddiakone oder Sozialpädagogen", bedauert Rust. Dass dennoch gute Jugendarbeit geleistet werden kann, beweist das Kikuyu-Projekt. Die Glücksburger absolvierten bereits 16 Auftritte bei Kirchentagen. Mit "Armes Deutschland?" haben sich 40 Jugendliche nun zum ersten Mal auf eine Deutschland-Tour gewagt. Zu Recht – denn das aktuelle Werk ist ein Meisterstück. Aus musikalischer Sicht sorgen dafür hervorragende Solisten wie Lukas Petersen, Morten Loesmann, Maxi Baasch, Indra Schlüter und Lotti Andresen. Aber auch die Leidenschaft, mit der Chor und Band insgesamt zu Werke gehen. Alle agieren hochkonzentriert – ohne dabei auf kleine Späße untereinander zu verzichten. Dafür gibt es regelmäßig Applaus und am Ende zahlreiche Spenden, die zu einem Großteil die Arbeit der kenianischen Augenklinik "Kikuyu Eyes Hospital" unterstützen werden.

Leidenschaft im Detail

Mit welcher Leidenschaft zu Werke gegangen wird, lässt sich daneben an vielen Details ablesen. Egal ob es um die Darstellung eines am Leistungsdruck der Gesellschaft gescheiterten Penners geht oder eine von Altersarmut gebeutelte Rentnerin an der Essensausgabe einer Tafel. Die Akteure leben ihre Rollen, formulieren textsicher und sind von der Maske perfekt, aber nicht übertrieben, ausstaffiert. So werden die Nöte einer alleinerziehenden Mutter greifbar. Mit mehreren Mini-Jobs hält sie die Familie über Wasser – während beide Töchter über ihre Unfähigkeit lamentieren. Schließlich gilt es auf Markenkleidung, Kinobesuche und Klassenfahrten zu verzichten.

Deutlich überzeichnet und gleichwohl aus dem Leben gegriffen auch die Inszenierung eines Elternabends. Hier trifft die Bitte des Religionslehrers, aus Rücksicht auf finanziell schlechter gestellte Familien Bescheidenheit zu üben, auf blankes Unverständnis bei dekadenten, reichen Müttern – die schließlich fordern, ärmere Kinder einfach zu Hause zu lassen.

"Junge Menschen haben heute keine Lust auf klassische Predigten", ist sich Thomas Rust bewusst. Deshalb begrüßt er das Format von Kikuyu. Statt mit mahnendem Finger von der Kanzel zu predigen, haben die Mitglieder der Gruppe "Kreative Verkündigung" ihre Botschaft in eine Schulstunde gepackt. Obwohl der Altarraum der Christuskirche nur wenig Raum lässt, errichten die Jugendlichen dort im Nu ein Klassenzimmer – in dem der 19-jährige Ove Brandt als Ethik-Lehrer über christliche Moral doziert.

Viele Probleme, darüber sind sich auch die Mitwirkenden des Kikuyu-Projektes im Klaren, verschwinden freilich nicht so einfach. So kommt "Armes Deutschland?" dann auch ohne klassisches Happy End daher. Im Schlussakt trifft die alleinerziehende Mutter wieder auf ihren Mann und nimmt den Verwahrlosten bei sich auf. Sie zeigt im christlichen Sinn Bereitschaft zur Vergebung – ohne das ihr angetane Leid vergessen zu wollen.

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