Interview: Selfies aus dem Konzentrationslager

27.1.2015, 10:13 Uhr
Interview: Selfies aus dem Konzentrationslager

© F.: privat

Herr Sigel, kennen Jugendliche Auschwitz tatsächlich nicht mehr?

Robert Sigel: Nein. Das kann im Ausnahmefall vorkommen, ist aber nicht die Regel. Wenn der Holocaust im Schulunterricht thematisiert wird, haben die meisten schon davon gehört — sei es über Eltern und Großeltern, Filme oder Gespräche mit Gleichaltrigen. Das Interesse ist sehr groß.

Vermittelt der bayerische Schulunterricht genügend Wissen?

Sigel: Genügend — das ist schwierig zu definieren. Ich glaube, dass die Jugendlichen, wenn sie die Schule verlassen, das Notwendige wissen: dass es sich beim Holocaust um einen Völkermord handelt, bei dem sechs Millionen Juden ermordet wurden. Sie wissen, was geschah und wie es geschah; sie wissen auch, dass es noch weitere Opfergruppen gab. Wichtig ist, dass die Schüler lernen und verstehen, kognitiv und emotional. Und dass sie für die Gegenwart die Kompetenz erwerben, dass man in bestimmten Situationen aktiv werden und handeln muss.

Der Zentralrat der Juden hat vorgeschlagen, den Besuch einer KZ- Gedenkstätte im Unterricht verpflichtend zu machen. Eine gute Idee?

Sigel: Die Diskussion, ob der Gedenkstättenbesuch freiwillig sein soll oder nicht, wird schon länger geführt. Im bayerischen Lehrplan wird ein solcher Besuch empfohlen. Die Diskussion ist aber vor allem eine theoretische. Ich habe noch von keinem Jugendlichen erfahren, der gesagt hätte: „Ich will da nicht hin.“ Das hat viele Gründe: Das Wissen um die monströsen Verbrechen, die an diesen Orten verübt wurden, die Authentizität eines solchen historischen Ortes, aber auch — ganz banal — die Lust, das Klassenzimmer zu verlassen und außerhalb der Schule etwas zu lernen und zu erfahren.

Eine Pflicht ist also überflüssig . . .

Sigel: Sie könnte dennoch sehr nützlich sein. Weniger für die Schüler als für die Lehrkräfte. Nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer sind beim Unterricht zum Thema Holocaust unsicher, da könnte ein Hinweis, dass ein Besuch wichtig und notwendig ist, ein Stück Orientierung bieten.

Welche Reaktionen beobachten Sie, wenn Sie Schüler durch die KZ- Gedenkstätte Dachau führen?

Sigel: Der Begriff Konzentrationslager weckt bei jedem unbewusst Assoziationen wie Hunger, Folter und Tod. Diese emotionale Erwartung bleibt zunächst unerfüllt. An bestimmten Orten aber, etwa am Krematorium, in Geschichten, Bildern, im Film werden die Jugendlichen berührt, findet dann auch ein emotionales Begreifen statt. Wichtig ist zudem immer, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Fragen erlaubt sind. Denn alle Fragen sind berechtigt.

Gehen Jugendliche mit Migrationshintergrund anders mit dem Holocaust um?

Sigel: Jugendliche mit Migrationshintergrund — das ist eine sehr große und heterogene Gruppe. Bei aller Differenzierung aber gilt, dass der Holocaust alle berührt. Die Schüler wissen, dass dies nicht nur ein Teil der Geschichte ihrer neuen Heimat ist, sondern dass es sich um die Geschichte Europas handelt. Jugendliche kennen Mitgefühl und Empörung, wenn Menschen Leid zugefügt wird. Dies trifft für den Völkermord an den Juden zu, aber auch für die Opfer anderer Völkermorde, etwa in Ruanda.

Wie gehen Sie damit um, dass Jugendliche in einigen Fällen in KZ- Gedenkstätten mit dem Smartphone Selfies machen, sich also mit dem  ehemaligen Konzentrationslager im Hintergrund fotografieren?

Sigel: Natürlich kann man sagen, dass das geschmacklos ist. Im Fall von Dachau berichten Lehrer ja auch, dass die Schüler bei der Fahrt nach Hause Musik hören und einen Stopp bei McDonald’s einlegen. Ich glaube aber, man sollte  solche Handlungen nicht vorschnell zum Indikator für mangelnde Empathie machen. Der Schluss, der Besuch war umsonst, ist sicherlich falsch. Ein Selfie heißt nicht, dass die Schüler nicht verstanden haben.

Zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz finden viele Gedenkveranstaltungen statt, die oft sehr ritualisiert wirken. Fühlen sich Jugendliche davon überhaupt noch angesprochen?

Sigel: Die ritualisierten Formen sind wichtig, aber wenn wir wollen, dass Gedenkveranstaltungen auch für junge Menschen bedeutsam sind, müssen wir neue Formen des Erinnerns finden. Denkbar ist, andere Musik oder auch Filme zuzulassen und jugendliche Redner einzuladen. Auch wenn es komisch klingt: Gedenkveranstaltungen müssen ein Event werden, bei dem die Jugendlichen wissen, es ist gut hinzugehen und es ist gut, Freunde mitzunehmen.

 

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