Nahverkehr der Zukunft: Realität und Visionen liegen weit auseinander

23.3.2018, 09:55 Uhr
Nahverkehr der Zukunft: Realität und Visionen liegen weit auseinander

© Horst Linke

Die Zahl der Menschen, die täglich zwischen Wohnort und Arbeitsplatz pendeln, steigt. Ebenso wachsen die Entfernungen, die dabei zurückgelegt werden. Laut des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung mussten 2016 bereits 18,4 Millionen und damit 60 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen deutschen Arbeitnehmer für die Ausübung ihres Berufs täglich die eigene Gemeinde verlassen. Im Schnitt legten sie zwischen Wohnort und Arbeitsplatz dabei 17 Kilometer zurück, in Ballungsräumen auch deutlich mehr.

Die meisten Pendler empfinden das tägliche Hin und Her angesichts der Kosten, der Staus auf den Straßen und den vollen Zügen am Morgen dabei als Belastung. Dagegen stellt die Auto-Industrie sehr erfolgreich die Idee vom autonomen Fahren. Das Versprechen der Branche dazu lautet: In nicht mehr ferner Zukunft wird sich der Mensch in bequemen Roboter-Kabinen umherfahren lassen. Werden sie nach der Ankunft nicht mehr gebraucht, kurven sie selbstständig nach Hause oder bringen wie ein kleines Ruf-Sammeltaxi andere zum Ziel.

Ein Gegenstück zu solchen Träumen für den öffentlichen Schienenpersonen-Nahverkehr (SPNV) gab es bisher nicht, was Johann Niggl ausdrücklich bedauert. "Da war uns die Autoindustrie immer weit voraus", sagt der Geschäftsführer und Sprecher der Bayerischen Eisenbahngesellschaft (BEG), also jener Tochter des Freistaats Bayern, die für die Planung, Ausschreibung und Finanzierung von Regional-Zügen und S-Bahnen zuständig ist.

Sportstudio an Bord des Zuges

Dabei gibt die BEG beispielsweise auch vor, wie viele Sitzplätze mit welchem Abstand in den Waggons vorhanden sein müssen, wie viele Gepäckablagen, Toiletten oder Plätze für Fahrräder, Kinderwagen und Rollstühle. Und in Zukunft vielleicht auch, ob es Einzelkabinen für vertrauliche Gespräche an Bord geben wird, eine Sitzgruppe um einen großen Flachbildschirm herum, auf dem Fußball-Spiele und Nachrichten zu sehen sind. Oder die BEG fordert sogar ein Sportstudio an Bord.

Zu sehen waren diese Visionen für den Nahverkehr der Zukunft erstmals im vergangenen November in Nürnberg. Mit großem Aufgebot stellte dort die DB-Tochter Südostbayern-Bahn den "Ideen-Zug" vor. In dem 26 Meter langen Doppelstock-Wagen sind 22 Module verbaut, die Pendlern irgendwann einmal definiert nach Zielgruppen die Reise angenehmer machen könnten. Einige der neuartigen Service- und Komfortelemente erklärt Niggl gut gelaunt zu einer "spinnerten Idee", wobei er das nicht negativ meint. "Dass man sich mal den Freiraum rausnimmt und den SPNV komplett neu denkt begrüße ich ausdrücklich", sagt er.

Was am Ende innerhalb welcher Zeiträume wirklich umgesetzt werden kann, ist eine andere Frage. "Die vielen Leitplanken aufzuweiten wird Jahrzehnte dauern", sagt Niggl. Um bei der Neugestaltung von Fahrzeugen zu bleiben: In der Regel schließt die BEG mit der DB oder anderen Betreibern Verkehrsverträge ab, die eine Laufzeit von zwölf Jahren haben. Umbauten an einer bestehenden Zugflotte sind in diesem Zeitraum nicht vorgesehen, zumal bei größeren Eingriffen eine Neuzulassung durch das Eisenbahn-Bundesamt nötig wäre.

Selbst wenn die BEG bereits bei aktuell anstehenden Ausschreibungen ein an den Ideen-Zug angelehntes Innendesign fordern würde: Derzeit gibt es keinen Hersteller, der so etwas serienmäßig im Programm hat. Und dann geht es vor allem in den Ballungsräumen und zur Hauptverkehrszeit am Morgen immer auch um die Kapazitäten.

Das wird auch in der Zukunft "der limitierende Faktor" bleiben, ist sich Niggl sicher. Schon heute reicht zur Hauptverkehrszeit das Angebot oft nicht aus. "In München ist das extrem, aber auch in Nürnberg", so Niggl. "Das Mobilitätsbedürfnis ist da, aber zum Teil gibt die Infrastruktur einfach nicht mehr her". In Eisenbahnknoten fehlen schlicht und einfach Bahnsteige für noch mehr Zugverkehr, zwischen Frankfurt, Würzburg und Nürnberg Gleise.

Doch nicht nur das schränkt den Raum für hochfliegende Zukunftsvisionen ein. Die Hälfte der Bahnstrecken in Bayern ist noch nicht einmal elektrifiziert, was den Verkehr nicht nur schmutzig, sondern auch langsam macht. Neue Crash-Normen für Fahrzeuge drohen zum Beispiel zwischen Augsburg und München den Platz für Fahrgäste weiter einzuschränken.

Etliche Probleme zu bewältigen

Aktuell bietet ein Zug auf der Strecke Platz für 900 Fahrgäste. In neue Fahrzeuge passen aber nur noch 800, "dabei bräuchten wir jetzt schon Kapazitäten für 1100 Reisende. Das ist doch absurd". Dazu kommen viele verschiedene politische Rahmenbedingungen und Wünsche: der geplante Umbau aller Bahnsteige auf eine Einheitshöhe von 76 Zentimetern mit weitreichenden Folgen für die Fahrzeugflotten, die Barrierefreiheit und am Ende natürlich die Frage der Finanzierbarkeit.

Auf der einen Seite schränkt das die Handlungsspielräume ebenso ein wie der tägliche Kampf "um die Basics" wie Pünktlichkeit und die Verfügbarkeit von Fahrzeugen, so Niggl. Gleichzeitig eröffnet die Digitalisierung große Chancen für eine neue Form des Nahverkehrs in der Zukunft, für eine echte Vernetzung der Reisekette unter Berücksichtigung verschiedener Verkehrsträger vom Nahverkehrszug über das Leihfahrrad bis hin zum Mietwagen. "Es gibt da so eine seltsame Ungleichzeitigkeit in unserer Branche", fasst Niggl diese Kluft zwischen Vision und Wirklichkeit zusammen.

Die spüren auch die Verantwortlichen beim Nürnberger Verkehrsverbund (VGN). Eine eigene Projektgruppe beschäftigt sich hier mit der Mobilität der Zukunft, der Entwicklung des Verkehrs und des Verbundes, der schon heute ein "sehr heterogener Raum" ist, wie Geschäftsführer Andreas Mäder sagt. "In den Städten wächst der Verkehr künftig vielleicht um vier bis fünf Prozent, auf dem Land schrumpft er um sechs bis sieben Prozent". Das wird zum Beispiel Auswirkungen auf den Regio-Busverkehr haben. "Den wird es künftig in der heutigen Form wohl nicht mehr geben", sagt Mäder. Vorstellbar ist für ihn eine Beschränkung auf schnelle Verbindungen auf Hauptstrecken und einen Zubringerverkehr mit autonomen Fahrzeugen, die sich auf individuellen Abruf in Bewegung setzen.

Gleichzeitig ist unklar, wie sich das Mobilitätsverhalten der Menschen künftig tatsächlich verändert, welche Rolle beispielsweise der Pkw in zehn, 15 oder 20 Jahren noch spielt und ob vor diesem Hintergrund jetzt zu treffende Entscheidungen für den Ausbau der Infrastruktur richtig sind.

Das alles sind für Mäder viele Variablen, die Prognosen so schwierig machen – unabhängig von der für praktisch alle Verkehrsexperten feststehenden Tatsache, dass der SPNV in jedem Fall ausgebaut werden muss, wenn eine Verkehrswende gelingen soll. "Das kommt mir bei den Zukunftsszenarien, die oft sehr technikgetrieben sind, zu kurz", sagt Mäder. Womit auch er beim Schlagwort Digitalisierung angelangt wäre. Ebenso wie Niggl sieht Mäder durchaus große Chancen durch den immer schnelleren technischen Wandel. Durch die Möglichkeiten der Vernetzung ist die durchgängige Reisekette mit einem auch verkehrsträgerübergreifenden elektronischen Ticket erstmals tatsächlich in greifbarer Nähe.

Viele Fragen sind aber auch hier noch nicht beantwortet. Das fängt für Mäder bei der Tatsache an, dass es schon jetzt schwierig ist, IT-Fachkräfte zu bekommen. "Die Leute sind knapp. Das macht die Angelegenheit auch teuer." Und werden die Kunden auch wirklich bereit sein, ihre Bewegungsdaten freizugeben, ohne die etwa der Aufbau eines übergreifenden Buchungs- und Informationssystems für ÖPNV, Auto- und Fahrradverleih sowie autonom fahrende On-Demand-Fahrzeuge nicht möglich sein wird? "Wir bewegen uns ständig zwischen Realität und Ansprüchen", sagt der VGN-Geschäftsführer.

Park- and Ride-Angebot ausbauen 

Dabei sieht Mäder die Aufgabe des VGN "auch künftig vor allem darin, die Städte im Verbund zu entlasten". Damit das Auto in den nächsten Jahren stehen bleibt und nicht zur Fahrt in die Innenstädte genutzt wird, muss das Park- und Ride-Angebot ausgebaut werden.

Vor diesem Hintergrund wurde in Zusammenarbeit mit dem Verkehrsverbund München auch das Pilotprojekt "P&R 4.0" entwickelt. Durch Echtzeitinformationen, die über die Fahrplanauskunftssysteme für den öffentlichen Verkehr, Handy-App und die Navigationssystemen in den Pkw abrufbar sein sollen, werden freie Plätze auf den miteinander vernetzten P+R-Anlagen angezeigt. Darüber hinaus bekommt der Kunde Informationen zu den nächsten Fahrtmöglichkeiten mit der Bahn für die jeweilige Station.

Über die beschleunigte Elektrifizierung von Bahnstrecken und auch Reaktivierungen sowie den Aufbau neuer Leit- und Sicherungstechnik müssen für Mäder zudem Kapazitäten auf bereits bestehender Infrastruktur erschlossen werden. "Verkehr lässt sich nicht isoliert betrachten". Entsprechend lassen sich große Veränderungen, wie sie aktuell permanent in der Diskussion sind, nicht mit einem Fingerschnippen herbeiführen. Schon gar nicht, so lange nicht geklärt ist, welche Finanzierungstöpfe künftig für den Bereich ÖPNV zur Verfügung stehen. "Das ist eine Mehrgenerationenaufgabe", so Mäder.

Ähnlich sieht es auch Johann Niggl. Seine Träume für die Zukunft? Ein gesellschaftlicher Konsens für die ausreichende Finanzierung des SPNV. Und darüber hinaus "mehr Infrastruktur, mehr Züge mit genug Platz für die Reisenden und dass so etwas wie Pünktlichkeit und Sauberkeit kein Thema mehr ist". So bescheiden - und doch so anspruchsvoll.

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