Kampf um Neumarkt

19.4.2005, 00:00 Uhr
Kampf um Neumarkt

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Am Freitag, den 13. April, kündigte sich im „Steinpfalz-Boten“ das Unglück für Neumarkt an. Die größte Überschrift in dieser letzten Nummer des Gaublattes lautet: „Jede Stadt ist zu verteidigen! Es gibt keine offene Stadt. Ein Erlass des Reichsführers SS“. Dazu erscheint ein Aufruf des Gauleiters Fritz Wächtler mit den Sätzen: „Jeder kämpft bis zum letzten Atemzug. Jetzt ist jeder Hof eine Burg, jede Fabrik eine Festung, jedes Haus ein Bollwerk“.

Damit diese Befehle auch befolgt werden, gibt es fliegende Standgerichte, die jeden flüchtenden Wehrmachtsangehörigen, jeden defätistischen Zivilisten sofort aufhängen, jedes Haus sofort anzünden sollen, aus dem zum Zeichen der Kapitulation eine weiße Fahne weht. Der deutsche Oberbefehlshaber West, Feldmarschall Albert Kesselring, setzt noch eins drauf: „In dringenden Fällen ist eine Exekution durch die Truppe auch ohne standgerichtliches Verfahren zulässig“.

Eines der ersten Opfer dieser Befehle wird ausgerechnet der Gauleiter selbst. Er ist vor den anrückenden Amerikanern aus seiner Gauhauptstadt Bayreuth nach Herzogau bei Waldmünchen geflüchtet und wird dort auf Anordnung Adolf Hitlers von einem SS-Standgericht am 19. April liquidiert.

Doch auch das wendet das Schicksal von Neumarkt nicht mehr: Die 17. SS-Panzer-Grenadier-Division „Götz von Berlichingen“, die zunächst wochenlang im Raum Crailsheim mit wechselndem Erfolg gegen die US-Truppen gekämpft hat, erhält den Befehl, sich Richtung Nürnberg zurückzuziehen. Die ausgelaugte Division soll die Besatzung von Nürnberg verstärken und gleichzeitig die Nahtstelle zwischen der 1. und der 7. deutschen Armee bilden und damit Durchbrüche der US-Panzer verhindern. Wegen fehlender Transportmittel und mangels Treibstoff kommen die Reste der SS-Division jedoch zu spät. Nürnberg ist bereits von vier amerikanischen Divisionen eingeschlossen. Nur ein Regiment der SS-Division gelangt noch in die Großstadt.

Die übrigen Einheiten, dazu versprengte Gruppen aus allen möglichen zurückflutenden Wehrmachtsteilen werden vom Divisions-Kommandeur SS-Oberführer Georg Bochmann zwischen Neumarkt und Roth zum Aufbau einer neuen Frontlinie versammelt.

Sieben Jagdpanzer

In und um Neumarkt stehen den Verteidigern unter dem Kampfkommandanten SS-Hauptsturmführer Dr. Walter Nestler zwölf Artillerie- und Flakgeschütze (Kaliber 8,8 cm), einige leichte Flakgeschütze und zehn Panzerabwehrkanonen (Pak) zur Verfügung. Dazu kommen etwa 120 Infanteristen, darunter größtenteils frisch rekrutierte Hitlerjungen, die man in die Waffen-SS gepresst hat. Am 18. April rattern noch sieben Jagdpanzer vom Typ „Hetzer“ unter der Führung von SS-Obersturmführer Egon Kloppmann in die Stadt. Sie bilden das Rückgrat der Verteidigung.

In den Panzersperren und in den Straßengräben am Stadtrand verschanzen sich die 16- und 17jährigen deutschen Soldaten mit ihren Panzerfäusten und Maschinengewehren und warten auf die anrückenden US-Truppen. Die Panzerabwehrkanonen werden an den Hauptstraßen zwischen den Häusern und Ruinen postiert. Paks stehen in der Badstraße, an der Altdorfer und in der Amberger Straße.

Volkssturm löst sich auf

Der Neumarkter Volkssturm, der aus rund 1000 Hitlerjungen, alten Veteranen und Kriegsversehrten besteht, hat sich praktisch aufgelöst. Die meisten Männer sind mit ihren Familien aufs Land geflüchtet. So finden sich an den Sammelstellen nur ein paar Dutzend Leute ein. Auf Befehl von Kreisleiter Neidhardt bezieht das letzte Aufgebot, das mit Panzerfäusten und italienischen Beutegewehren ausgerüstet ist, an den Panzersperren am Grassahof und bei Helena Stellung. Neumarkt selbst ist nach zwei Bombenangriffen, mehreren Tiefflieger-Attacken und einem Evakuierungsbefehl der NS-Parteileitung fast menschenleer.

Auch die ungarische SS, die tagelang in der Stadt kampiert und sich hier durch ihre wüsten Zechgelage ausgezeichnet hat, ist längst über alle Berge und konfisziert auf ihrem Rückzug in Deining und Umgebung landwirtschaftliche Gespanne, um ihre „Beute“ transportieren zu können. Die Ungarn wurden viele Jahre als die Schuldigen am Schicksal Neumarkts hingestellt. Doch sie waren wohl kaum an der Verteidigung der Stadt beteiligt, wie aus den Divisionsbefehlen der „Götz von Berlichingen“ einwandfrei hervorgeht. Man hätte die Ungarn auch gar nicht zur Verteidigung einsetzen können, da sie auch in der Endphase des Krieges nach wie vor nur dem ungarischen Honved-Ministerium unterstanden.

Tiefflieger greifen an

Auf den Rückzugsstraßen sind nicht nur Ungarn, sondern auch lange Kolonnen deutscher Einheiten unterwegs. Es herrscht reger Verkehr. Das entgeht auch den US-Luftbeobachtern nicht. Sie fordern Jagdbomber an, die am 16. April gegen 17 Uhr mit 16 Maschinen die Altdorfer Straße angreifen.Mit Bomben und Bordwaffen hämmern sie auf alles ein, was sich bewegt. Sie schießen dabei auch deutsche Fahrzeugkolonnen am Blomenhof zusammen. In einen solchen Tieffliegerangriff gerät Josef Bogner, der spätere Neumarkter Schulamtsdirektor. Als er mit seinem Bruder einen Karren mit zwei Zentnern Weizen vom heimatlichen Hof in Richtheim zur Klostermühle nach Gnadenberg zieht, kommen Tiefflieger. Nur der beherzte Zugriff eines deutschen Soldaten, der den wie gelähmt dastehenden Jungen kurzerhand in die Brennesseln wirft, rettet Bogner das Leben.

Am 17. und 18. April formieren die Amerikaner ihre Angriffsverbände zwischen Hersbruck und Roth. Es sind Teile der 12. US-Panzer-Division, ein Regiment der 14. Panzer-Division, die 106. Cavalry-Group und die 65. Infanterie-Division. Insgesamt an die 400 Panzer, Schützenpanzer und Panzerspähwagen, dazu 200 Geschütze der Divisionen und des Armee-Korps mit etwa 15 000 Mann. Allein gegen Neumarkt werden ein Panzer-Bataillon mit 50 Panzern und Panzerspähwagen und drei Bataillone des 259. und 261. US-Infanterie-Regiments mit etwa 1600 Mann eingesetzt.

Im Kreuzfeuer der Artillerie

Neumarkt gerät schon am 18. April ins Kreuzfeuer amerikanischer und deutscher Artillerie. Während US -Panzer und Haubitzen von Hausheim, vom Dillberg und Berg aus auf die Stadt feuern, beschießen die auf dem Wolfstein, am Mariahilfberg, bei Siegenhofen und Tauernfeld postierten deutschen Geschütze die Straßen rund um Neumarkt, auf denen bereits die Amerikaner vorrücken.

In dieser schier ausweglosen Lage unternimmt der Neumarkter Feuerwehrkommandant Sebastian Kirsch den verzweifelten Versuch, seine Heimatstadt vor dem Untergang zu retten. Er will eine weiße Fahne zum Zeichen der Kapitulation auf dem Turm der Stadtkirche hissen. Die folgende Tragödie dürfte sich so abgespielt haben: Als Sebastian Kirsch den Polizeileutnant Stephan Birk darauf anspricht, zuckt der nur mit den Achseln und erklärt, was er auch anderen Bürgern gegenüber andeutet: „Ich habe hier nichts mehr zu sagen, da führt ein anderer“. Kurz darauf taucht SS-Kampfkommandant Dr. Walter Nestler auf. Nach einer lebhaften Diskussion fallen Schüsse. Kirsch stürzt auf das Pflaster und wird wenig später von Passanten tot aufgefunden. Es dürfte kein Zweifel mehr bestehen: Kirsch wurde von dem SS-Offizier erschossen, als er seine Heimatstadt vor dem Untergang retten wollte.

Die Amerikaner nähern sich jetzt von zwei Seiten Neumarkt: Einen US- Vorstoß von Berg aus wehren deutsche Truppen in Richtheim beim ersten Versuch ab. Beim zweiten US-Angriff räumen die 40 Mann das brennende Richtheim und ziehen sich auf Neumarkt zurück.

Das selbe Schicksal wie Richtheim droht auch Pölling. Hier haben sich einige SS-Soldaten an der Kirche mit zwei Panzerabwehrkanonen verschanzt. Deshalb feuern die Amerikaner mit Panzern und Geschützen vom Dillberg und von Hausheim aus auf das Dorf. Granaten schlagen in die Bäckerei Feihl, in drei Bauernhöfe, in die Kirche und in das Pfarrwirtschaftsgebäude ein. Ein Volltreffer setzt die beiden Paks außer Gefecht und tötet den SS-Zugführer.

Pölling wird gerettet

Nachdem ein Rettungsversuch des Pöllinger Bürgermeisters am Widerstand der SS-Verteidiger gescheitert ist, gehen Josef Schmidt und der damals 20-jährige Martin Feihl den Amerikanern entgegen, die sie schon beim Anwesen Weigl treffen, Sie fallen vor ihnen auf die Knie und bitten die US-Soldaten um Schonung ihres Ortes. Die Beiden müssen mit der weißen Fahne vorausgehen, flankiert von den US-Soldaten mit entsicherten Gewehren. Sie wissen: Bei deutschem Widerstand werden sie entweder von den US-Soldaten oder von den SS-Leuten erschossen. Doch die SS ist getürmt. Die amerikanischen Soldaten finden nur noch einen US-Flieger, der von einer Pöllinger Bauernfamilie in einer Scheune versteckt wurde.

Doch in Neumarkt findet sich nach dem Tod von Sebastian Kirsch kein Mann mehr, der für die Stadt sein Leben aufs Spiel setzen will. So nimmt das Schicksal seinen Lauf, an dessen Ende die Innenstadt in Flammen aufgeht.