Niemandsland Neumarkt: Letzte Gefechte in rauchenden Trümmern

21.4.2015, 09:53 Uhr
Niemandsland Neumarkt: Letzte Gefechte in rauchenden Trümmern

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Es ist inzwischen der 21. April, wieder kreisen Jagdbomber über der Stadt. Ein US-Luftaufklärer wirft Flugblätter ab, die noch einmal zur Kapitulation auffordern. Diesmal wird mit der totalen Zerstörung durch ein großes Bomberkommando gedroht.

Der Chef des Krankenhauses, Obermedizinalrat Dr. Kraus, schnappt sich ein Flugblatt, keucht durch die brennenden Häuserzeilen hinauf zum Finanzamt und beschwört den Kampfkommandanten: „Machen Sie Schluss, denken Sie an die vielen hundert Verwundeten und Kranken in den Lazaretten und im Krankenhaus."

Egon Kloppmann überlegt kurz, nimmt per Funk Verbindung mit seiner Division auf und gibt die befreiende Antwort. „Wir räumen.“ Wie er später berichtet, schreibt Rainer Krüninger, habe er diesen Rückzugsbefehl nur gegeben, „weil der Feind inzwischen beiderseits der Stadt vorbei vorgestoßen war und die Einschließung meiner Einheit drohte“. Die sechs Jagdpanzer rattern nach Südwesten aus der Stadt. Eine Handvoll Infanteristen deckt den Rückzug.

Die Keller-Bewohner, die sich in Sicherheit bringen wollen, geraten dabei in das Rückzugsgefecht der SS-Soldaten. „An der Hofkirche rannte die SS wild umher. Geschossen wurde überall“, berichtet eine Frau später. Gewehrschüsse peitschen, MG- Salven knattern.

Die Flüchtenden gehen in Deckung. In der Hofkirche verschanzt sich ein SS-Mann mit einer Maschinenpistole und einer Handvoll Eierhandgranaten hinter dem Altar. Die Amerikaner bringen ein Maschinengewehr in Stellung und feuern, was das Zeug hält. Der Soldat fällt im Nahkampf. Der Altar hat 27 Einschüsse.

Am 22. April ist Neumarkt fast Niemandsland. Die Amerikaner gehen nur zögerlich vor, die wenigen SS-Soldaten ballern ab und zu durch die Gegend und suchen in den Häusern nach Essbaren. In einer Bäckerei machen sie gerade Brotzeit im Hinterzimmer, als amerikanische Soldaten vorne das Schaufenster zerschlagen und in das Haus eindringen. Die SS-Männer türmen.

US-Soldaten retten Hofkirche

So, wie sie auch getürmt sind, als sie vor zwei Tagen neun gefangene US-Soldaten aus dem Verlies des Schlosses holen und erschießen wollten. Doch der Gefängniswärter wehrte ab. Bevor die SS-Leute Ernst machen konnten, kamen Jagdbomber und die deutschen Soldaten verschwanden. Jetzt sind die Amerikaner frei und holen Wassereimer und Schaufeln und ersticken die in der Hofkirche aufzüngelnden Flammen.

Nicht nur Neumarkter irren durch die rauchenden Trümmer der Stadt. Auch die Gefangenen aus den Lagern tauchen auf. Die Landesschützen, die sie bewacht haben, sind nach Hause gegangen oder haben sich bei Privatleuten Zivilkleidung besorgt. Die halbverhungerten Russen klopfen an die Haustüren und betteln um Essen.

Doch bald betteln sie nicht mehr, sondern plündern. Und mit ihnen ein Teil der anderen 6000 Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter aus Jugoslawien, Frankreich, Italien, Belgien und Polen, die um diese Zeit in Lagern und Betrieben in der Stadt sind.

Neumarkt wird zeitweise auch von deutscher Artillerie beschossen. Zwei Geschütze stehen am Wolfstein, eines am Mariahilfberg. Granaten schlagen in die Altdorfer Straße ein. Ausgerechnet dorthin haben die Amerikaner einige aus der Stadt flüchtende Einwohner gejagt. Die Detonationen liegen dicht. Die Menschen, inzwischen völlig apathisch, gehen nicht einmal mehr in Deckung. Eine Frau erklärt Rainer Krüninger später: „Die Straße hat fast gebrannt. Ein Einschlag nach dem anderen. Uns war egal, was passiert.“ Aber der Feuerzauber ist bald vorbei.

US-Panzer stürmen den Wolfstein und schalten Geschütze und Besatzung aus. Das Geschütz am Mariahilfberg wird durch Artillerie und Jagdbomber zum Schweigen gebracht. Dabei wird der Kirchturm zerstört.

Der Volkssturm hat sich längst verkrümelt. Am Graßahof stehen nur noch Kreisleiter Neidhardt und der Ortsgruppenleiter hinter den Panzersperren. Dann verschwindet der Kreisleiter, fährt nach Parsberg, hält dort noch eine zündende Rede vom „Widerstand bis zum letzten Mann“, faselt von Wunderwaffen und Endsieg und setzt sich anschließend in den Bayerischen Wald ab. Nach Kriegsende versucht er in Pyrbaum bei Parteigenossen unterzutauchen, wird aber erkannt und von den Amerikanern in ein Internierungslager gesteckt.

Das 261. US-Infanterieregiment „säubert Neumarkt inzwischen vom Feind“. Zu säubern gibt es nicht mehr viel, da die meisten SS-Soldaten weg sind. So lassen die Befreier ihre Wut über den tagelangen Widerstand an den deutschen Zivilisten aus. Sie scheuchen sie aus den Häusern. Die wenigen Männer, die sie finden, müssen sich mit erhobenen Händen an die Wand stellen. Die Leibesvisitationen dienen nicht nur der Suche nach Waffen. Uhren und Fotoapparate sind begehrt. Mancher US-Soldat läuft mit drei oder vier Uhren am Arm herum.

Während sich am Rangierbahnhof noch einige SS-Soldaten verschanzen und die SS-Division eine neue „Front“ bis zum Staufer Berg aufbauen will, gehen die amerikanischen Soldaten in Schützenlinien durch die zerstörte Innenstadt. Am Bahnhof fällt der letzte deutsche Soldat in diesem dreitägigen Kampf: ein 16-jähriger Flakhelfer aus Weiden.

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