US-Bomber machten Neumarkter Bahnhof platt

3.4.2015, 11:45 Uhr
US-Bomber machten Neumarkter Bahnhof platt

Die Nationalsozialisten hatten nach der Machtergreifung 1933 Neumarkt gleichgeschaltet wie jede andere Kommune im Deutschen Reich. Dabei war das kleine Landstädtchen keine Kommune wie jede andere; hier war Dietrich Eckart geboren, väterlicher Freund und Mentor Adolf Hitlers im München der 20er Jahre.

Er brachte dem „böhmischen Gefreiten“, wie Hindenburg lästerte, bei, sich bei Tisch nicht ins Tischtuch zu schnäuzen, sich manierlich aufzuführen. Er ebnete ihm auch den Weg in die bessere Münchener Gesellschaft, zu der er Zugang hatte. Beide überwarfen sich, doch als die Nazis am Mythos ihrer Bewegung feilten, war der schon tote Neumarkter als väterlicher Freund plötzlich wieder willkommen. Neumarkt war die Dietrich-Eckart-Stadt, Hitler besuchte sie dreimal.

Wehrmacht am Rückzug

Das lag nun aber schon etwas zurück, der Krieg, begonnen im September 1939 mit dem Überfall auf Polen, tobte. Die anfängliche Fortune war dahin, die Wehrmacht ob der überzogenen Pläne des größten Feldherren aller Zeiten, wie Spötter sagten, am Ende, die Alliierten übermächtig. Dass Deutschland bitter für die Hybris der Nazis würde zahlen müssen, das dämmerte vielen.

Zurück nach Neumarkt: Freitag, der 23. Februar, war ein sonniger Vorfrühlingstag. Bei 20 Grad in der Sonne hätte man den Krieg vergessen können, der trotz aller Propagandalügen des großdeutschen Rundfunks immer näher rückte, schreibt Rainer Krüninger, stellvertretender Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten im Ruhestand, in seinem Standardwerk über die letzten Kriegstage in Neumarkt, aus dem hier überwiegend zitiert wird.

Im Osten hatten die Russen die deutsche Front in Polen durchbrochen und waren nach Ostpreußen und Schlesien vorgedrungen. Im Südosten standen die sowjetischen Armeen in Ungarn am Plattensee, im Westen stießen die Alliierten durch den Westwall zum Rhein vor.

Das wussten auch die Neumarkter Hausfrauen und die wenigen älteren Männer, die an diesem Vormittag unterwegs waren, um die auf Lebensmittel- und anderen Karten aufgerufenen Zuteilungen für Ernährung und Bekleidung zu besorgen.

An einen Bomberangriff auf Neumarkt, urteilte Krüninger nach zahllosen Zeitzeugen-Interviews, glaubte so recht niemand. Der Glaube sei allerdings mehr eine Hoffnung gewesen. Zwar hatte es seit 1942 immer wieder Fliegeralarm gegeben, aber meistens war Nürnberg das Ziel amerikanischer und englischer Luftangriffe gewesen. Niemand ahnte, dass die alliierten Luftstreitkräfte eine gewaltige Bomberoffensive vorbereitet hatten, die bereits am 22. Februar angelaufen war und ihren ersten Höhepunkt an diesem 23. Februar erreichen sollte. Die Operation „Clarion“, bei der 10 000 Flugzeuge eingesetzt wurden, sollte die deutschen Verkehrswege tödlich treffen und die Bevölkerung demoralisieren.

Weitere Angriffswelle

Der deutschsprachige Sender der BBC hatte für den 23. Februar eine weitere Angriffswelle auf kleinere Städte im süddeutschen Raum angekündigt, schreibt Krüninger. Trotz dieser Vorwarnungen drängten sich viele Neumarkter an den Fenstern, als die ersten Bomberpulks in geordneten Formationen wie zu einer Luftparade am blauen Himmel über Neumarkt dröhnten, erinnerten sich 50 Jahre später noch viele Augenzeugen.

Der 13-jährige Karlheinz Müller erzählte damals, dass er in der Stroberstraße auch nach dem Vollalarm auf einen Telegrafenmast geklettert sei, um den Freunden seine Beobachtungen mitzuteilen. Plötzlich schreite er: „Die kommen zurück“. Er klettert von seinem Mast herunter und rennt heim. „Ich hab’ noch die Bomben purzeln sehen“, sage er. Dann bebt schon die Erde und die Vernichtung im Bahnhofsviertel beginnt.

Die Bomben treffen Bahngebäude, Gleisanlagen, vor allem den Güterbahnhof, Waggons und Lokomotiven. Die Expreßwerke und die Holzfirma Hauck und Lang werden durch Volltreffer zerstört, die zwei Kessel des Gaswerks explodieren. Der Boden wankt und zittert wie bei einem Erdbeben, Trümmer fliegen hoch in die Luft, Splitter regnen über die halbe Stadt, schreibt Krüninger.

Um 11.32 Uhr ist der Feuerzauber vorbei. Er hat zwölf Minuten gedauert. Die Bomber drehen ab. Über dem Bahnhofsviertel stehen Rauch- und Staubwolken. Die Neumarkter, die vorsichtig aus ihren Kellern und Luftschutzräumen kriechen, sehen Richtung Bahnhof nur noch eine schwarze Wand. Auf Luftbildern der US-Armee sieht man, dass viele Bomben ihr Ziel verfehlten – sie landeten hinter dem Bahnhof. Auch etliche Blindgänger waren zu verzeichnen.

Als die Bomber abdrehen, erzählen die Zeitzeugen, wollen die Hilfstrupps vor allem die vielen verschütteten Menschen retten, die im Splittergraben, in den kleinen Bunkern, in den Kellern der Häuser rund um den Neumarkter Bahnhof eingeschlossen sind. Der 14-jährige Richard Knerler, als Luftschutzmelder rekrutiert, klettert mit seinen Kameraden über Steine, verbogene Gleise, durch Trichter, um sich zu den dumpfen Schreien durchzukämpfen, die aus der Erde kommen. Im Splittergraben sollen an die 100 Menschen eingeschlossen sein und drohen zu ersticken, schreibt Krüninger.

Der große Kessel des Gaswerks hat bei seiner Explosion einen ungarischen Flüchtlingszug in Brand gesetzt. Die meisten seiner Insassen haben im Deckungsgraben Schutz gesucht, der ihnen zum Grab wird. Nur acht Personen werden lebend geborgen. Eine Bombe ist in das sogenannte Italiener-Lager am späteren Stellwerk I eingeschlagen und hat die in den Baracken hausenden und bei der Bahn arbeitenden Männer begraben. Auch dort kann nur mit der Hand gebuddelt werden. Ein junger Italiener gräbt innerhalb weniger Stunden vier seiner Kameraden aus, bis er schließlich mit blutigen Händen erschöpft zusammenbricht.

Ungarische Nazis

Bei den Ungarn, die mit einem Flüchtlingszug in den letzten Kriegsmonaten auf dem Neumarkter Bahnhof gestrandet waren, hat es sich um so genannte Pfeilkreuzler gehandelt. „Die hatten alle braune Uniformen an, die Frauen waren reich mit Schmuck behangen“, erinnerte sich ein Augenzeuge erst vor wenigen Jahren, der die Ungarn damals im Bahnhof gesehen hatte.

Die Pfeilkreuzler waren das ungarische Pendant der Nationalsozialisten; Hitler hatte sie als Marionettenregime im letzten Kriegsjahr im von den Sowjets noch nicht besetzten Teil Ungarns als willige Statthalter eingesetzt. Die Pfeilkreuzler waren fanatische Antisemiten, 50 000 Juden massakrierten sie, ehe die Sowjets sie überrannten.

Das erklärt auch ihre Anwesenheit kurz vor Kriegsende in Neumarkt: Die Pfeilkreuzler waren mit ihren Familien auf der Flucht. Doch sie sind nicht entkommen.

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