15. Januar 1969: Die Zukunft beginnt mit Jubiläum

15.1.2019, 07:03 Uhr
15. Januar 1969: Die Zukunft beginnt mit Jubiläum

© Ranke

Das Gebäude mit seiner unansehnlichen Fassade, in dem eine lange Geschichte über den Kampf der Arbeiter für günstigere Arbeitszeiten und höhere Löhne geschrieben worden ist, genügt den Anforderungen nicht mehr; ein fehlender Aufzug ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso ein Manko wie die Tatsache, daß sie nicht allen im Gewerkschaftsbund zusammengefaßten Organisationen Platz bietet, von geeigneten Besprechungs- und Unterrichtsräumen ganz zu schweigen.

Ein repräsentativer Neubau am künftigen Kurt-Schumacher-Boulevard – wie berichtet, zieht er sich von der Elisabethkirche zum Kornmarkt hin – soll nunmehr die schon von vielen Generationen gehegte Sehnsucht nach einem gewerkschaftlichen Mittelpunkt erfüllen. "Es war schon immer ein Unding, daß jede einzelne Gewerkschaft, über alle Stadtteile verstreut, eine eigene Bleibe hatte. Auch können wir unseren Mitgliedern nicht mehr länger zumuten, daß sie auf dem Gang warten müssen, wenn sie mit einem Anliegen zu uns kommen", begründet der erste Bevollmächtigte der IG Metall in Nürnberg, Senator Otto Kraus die Neubaupläne, die Architekt Professor Gerhard Dittrich ausarbeitet.

Parteien einigten sich

Der Hauptvorstand der IG Metall in Frankfurt hat beschlossen, wie Kraus erklärte, daß gebaut wird. Über die Form muß er sich noch schlüssig werden. Soviel steht aber bereits fest: Stadt und Gewerkschaft ziehen an einem Strang. Die Gewerkschaft braucht ein neues Haus, die Stadt ein neues Schulhaus. Also setzten sich beide Parteien an einen Tisch und handelten einen Tausch aus: die Gewerkschaft bekommt das Gelände gegenüber dem Germanischen Nationalmuseum, auf den einst die Kartäuserschule stand, und tritt dafür ihr eigenes Grundstück ab.

Freilich, die Auflage, daß gegenüber dem Museum nur flachgeschossig gebaut werden darf, beeinträchtigt von vornherein die Planung. Architekt Dittrich muß nun eine günstige Verbindung vom Flachbau zum achtgeschossigen Gebäude an der Westseite des Geländes finden, denn: auf 2.000 Quadratmeter bebauter Fläche sollen Jugendräume, Säle, eine Gaststätte und die Verwaltungen unter-gebracht werden. Auch an eine Ladenreihe entlang des Schumacher-Boulevards ist gedacht. "Wir wollen noch im Frühjahr den Grundstein legen. Vielleicht können wir dann schon im Dürerjahr 1971 einziehen", hofft Senator Kraus.

Schlußstrich unter Tradition

Das neue Zentrum wird einen Schlußstrich unter die 60jährige Geschichte des alten Gewerkschaftshauses setzen. Obwohl die Bibliothek mit allen Urkunden im Krieg vernichtet wurde, ist bekannt, daß sich das Büro des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Wohnung des damaligen Kassiers Kümmerle befand. 1908 konnte ein Anwesen in der Vorderen Kartäusergasse günstig erworben werden, das einen Anbau in der Hinteren Kartäusergasse, der heutigen Kolpinggasse, erhielt.

Der heute 70 Jahre alte Leonhard Burger, langjähriger Bildungssekretär, hat die Geschichte des Gewerkschaftshauses fast vom Anfang an verfolgt. Er erinnert sich, daß der Wunsch nach einem größeren Gebäude schon in den zwanziger Jahren übermächtig war. "Wir bezahlten damals 20 Pfennig in der Woche für einen Anbau mit Saal", erzählt er. Schon damals dachte man wie heute an das Grundstück gegenüber dem Museum. Leonhard Burger weiß auch noch, daß in der Kartäusergasse die Hauptstreikleitung saß, als die Metallarbeiter vom 15. März bis 25. Mai 1922 um eine Verkürzung der Arbeitszeit von 56 auf 55 Stunden kämpften!

Der alte Gewerkschafter war ebenfalls Zeuge, als am Morgen des 2. Mai 1933 uniformierte SA-Leute vor dem Gebäude Wache hielten. "Bis 1945 hat kein Gewerkschaftsmitglied mehr das Gebäude betreten", berichtet Burger. Nach dem Zusammenbruch aber war von dem Haus nicht mehr viel übrig: das Dach abgedeckt, die Räume ausgebrannt. "Die ersten Besprechungen wurden auf acht Quadratmeter Fläche geführt."

Der damalige Hauptkassier Karl Müller rief mit ungebrochener Energie die alten Mitglieder zu den Schaufeln. "Wir beseitigten erst die Schuttberge in der Kartäusergasse und begannen dann mit den Aufräumungsarbeiten im Gebäude."

Kaum einer der alten Arbeitspioniere wagte in den ersten Nachkriegsjahren zu hoffen, daß ihr jahrzehntelanger Mittelpunkt bald zu klein sein würde. Auch der 1952 errichtete Erweiterungsbau war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. So ist die heutige "Geburtstagsfeier" nicht nur der Rückschau gewidmet. Sie soll gleichzeitig den Weg in die neue Zukunft der Nürnberger Gewerkschaften Weisen.

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